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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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noch schlimmer, denn wir kommen ans den Thränen, dem Jammer, der Noth
und den Klagen eben so wenig heraus, wie aus dem ewigen Husten, den Fiebern
und den anderen materiellen Symptomen des Leidens. Mehrere seiner Novelle"
behandeln weiter Nichts, als die Entwickelung der Schwindsucht von ihrem ersten
Stadium bis zum Ausgang des Lebens; jede der übrigen Krankheiten, die Apo¬
plexie, der Krebs !c., ferner die verschiedenen Sorten der Verwundung, finden
ihre angemessene Stelle; und wenn das noch nicht genügt, so werden Geister-
erschcinnngen mit der breiten Gewissenhaftigkeit eines matter-ok-l'act-Manns
vorgetragen, oder die unheimlichen^ zum Theil gräßlichen Erscheinungen des Gal-
vanismus und Somnambulismus, der Epilepsie und des Scheintodes ausgeboten,
und keine wüste Phantasie,' die im ängstlichen Fiebertraume ein krankhaftes Ge¬
müth ergreift, wird dem Leser erspart. -- Bei diesem Materialismus der Phan¬
tasie kauu uns die Sauberkeit und Gewissenhaftigkeit in der Ausführung nicht
entschädigen, denn ein wissenschaftlicher Ernst ist in diesen Schilderungen doch
nicht vorhanden. Es bleibt immer ein Unrecht, Probleme, die der Wissenschaft
angehören, im Roman zu behandeln, denn die Form widerspricht dem Inhalt.
Es ist eine beständige Quälerei, ohne d.aß unsrer Erkenntniß jene Förderung
zu Theil wird, die uns allein damit versöhnen kann.

Allerdings ist das materielle Interesse nicht das einzige. Wenn uns die
Schwindsucht, der Wahnsinn, der Schlagfluß, das Delirium tremsns 2c. geschil¬
dert wird, so ist wenigstens in der Regel, wenn anch nicht immer, die Krankheit
als eine Folge früherer geistiger Verirrungen aufgefaßt; allein diese Moral kommt
auf einen ideenlosen Quietismus heraus, der jede Kraft der Seele bekämpft, weil
sie zum Uebermaß führen kann, und der durch seinen weinerlich - christlichen An¬
strich keineswegs ästhetischer wird. Abgesehen von den cnrrenten Lastern, deren
schädlicher Einfluß ans die Gesundheit von Niemandem bestritten werden dürfte,
Spiel, Trunk, Ausschweifung in der Liebe ze., wird z. B. ein Staatsmann dar¬
gestellt, der sich durch das beständige Fieber des Ehrgeizes aufreibt, ein Kauf¬
mann, der durch Erwerbssucht zu Grunde geht, ein leidenschaftlicher Denker, der
über seinen Abstractionen das wirkliche Leben vernachlässigt und darüber verhun¬
gert, ein Gelehrter, der sich durch übertriebene Anstrengung die Schwindsucht
zuzieht u. s. w. Die Genauigkeit in der Ausführung erinnert eben so, wie die
unbestimmte Melancholie der Anschauung an Balzac und an dessen Vorbild Ma-
tnrin. Einzelne Erzählungen, z. B. der philosophische Märtyrer, könnten eben
so gut vou Balzac herrühre". Es ist hier wie mit der Sammlung von Criminal-
geschichten. Wenn es auch Warren nicht als dogmatischen Lehrsatz hinstellt, daß
man sich vor dem Denken, vor dem Studium, vor der Liebe, vordem Ehrgeiz
zu hüten habe, um seine Gesundheit zu bewahren, so macht doch die Anhäufung
von Fällen, in denen dieser Grundsatz sich bethätigt, den nämlichen Eindruck, wie
ein solches tabula, äoeet. -- Da die Tendenz in allen Erzählungen so ziemlich


öl *

noch schlimmer, denn wir kommen ans den Thränen, dem Jammer, der Noth
und den Klagen eben so wenig heraus, wie aus dem ewigen Husten, den Fiebern
und den anderen materiellen Symptomen des Leidens. Mehrere seiner Novelle»
behandeln weiter Nichts, als die Entwickelung der Schwindsucht von ihrem ersten
Stadium bis zum Ausgang des Lebens; jede der übrigen Krankheiten, die Apo¬
plexie, der Krebs !c., ferner die verschiedenen Sorten der Verwundung, finden
ihre angemessene Stelle; und wenn das noch nicht genügt, so werden Geister-
erschcinnngen mit der breiten Gewissenhaftigkeit eines matter-ok-l'act-Manns
vorgetragen, oder die unheimlichen^ zum Theil gräßlichen Erscheinungen des Gal-
vanismus und Somnambulismus, der Epilepsie und des Scheintodes ausgeboten,
und keine wüste Phantasie,' die im ängstlichen Fiebertraume ein krankhaftes Ge¬
müth ergreift, wird dem Leser erspart. — Bei diesem Materialismus der Phan¬
tasie kauu uns die Sauberkeit und Gewissenhaftigkeit in der Ausführung nicht
entschädigen, denn ein wissenschaftlicher Ernst ist in diesen Schilderungen doch
nicht vorhanden. Es bleibt immer ein Unrecht, Probleme, die der Wissenschaft
angehören, im Roman zu behandeln, denn die Form widerspricht dem Inhalt.
Es ist eine beständige Quälerei, ohne d.aß unsrer Erkenntniß jene Förderung
zu Theil wird, die uns allein damit versöhnen kann.

Allerdings ist das materielle Interesse nicht das einzige. Wenn uns die
Schwindsucht, der Wahnsinn, der Schlagfluß, das Delirium tremsns 2c. geschil¬
dert wird, so ist wenigstens in der Regel, wenn anch nicht immer, die Krankheit
als eine Folge früherer geistiger Verirrungen aufgefaßt; allein diese Moral kommt
auf einen ideenlosen Quietismus heraus, der jede Kraft der Seele bekämpft, weil
sie zum Uebermaß führen kann, und der durch seinen weinerlich - christlichen An¬
strich keineswegs ästhetischer wird. Abgesehen von den cnrrenten Lastern, deren
schädlicher Einfluß ans die Gesundheit von Niemandem bestritten werden dürfte,
Spiel, Trunk, Ausschweifung in der Liebe ze., wird z. B. ein Staatsmann dar¬
gestellt, der sich durch das beständige Fieber des Ehrgeizes aufreibt, ein Kauf¬
mann, der durch Erwerbssucht zu Grunde geht, ein leidenschaftlicher Denker, der
über seinen Abstractionen das wirkliche Leben vernachlässigt und darüber verhun¬
gert, ein Gelehrter, der sich durch übertriebene Anstrengung die Schwindsucht
zuzieht u. s. w. Die Genauigkeit in der Ausführung erinnert eben so, wie die
unbestimmte Melancholie der Anschauung an Balzac und an dessen Vorbild Ma-
tnrin. Einzelne Erzählungen, z. B. der philosophische Märtyrer, könnten eben
so gut vou Balzac herrühre». Es ist hier wie mit der Sammlung von Criminal-
geschichten. Wenn es auch Warren nicht als dogmatischen Lehrsatz hinstellt, daß
man sich vor dem Denken, vor dem Studium, vor der Liebe, vordem Ehrgeiz
zu hüten habe, um seine Gesundheit zu bewahren, so macht doch die Anhäufung
von Fällen, in denen dieser Grundsatz sich bethätigt, den nämlichen Eindruck, wie
ein solches tabula, äoeet. — Da die Tendenz in allen Erzählungen so ziemlich


öl *
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/413>, abgerufen am 22.07.2024.