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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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drüber vertheile"; gefährliche Journalisten fahren auf allen Eisenbahnen hin und her,
um ruhige Unterthanen durch bösartige Zeitungsartikel zur Felonie zu verführen.
Natürlich steckt einiges Wahre dahinter, aber der Eiser und die Thätigkeit der
Verfolger ist unendlich viel größer, als der Eiser und die Intriguen der Uebel¬
thäter. Folgender Fall, welchen wir der Mittheilung zuverlässiger Beobachter
verdanken, sei ein Beispiel dieses Stadiums der Unpäßlichkeit.

Es ist Mariä Lied.tmeß Nachmittag 3 Uhr; an der fliegenden Brücke stehen
Soldaten von der Brückenwache, Zollschutzwächter und Gendarmen müßig und
gaffend. -- Ein Schuhmachergesell aus dem Elsaß kommt aus dem Städtchen,
begleitet von seinen Freunden, die er besticht hat, und hat ein kleines Näuschle;
-- er will übersetzen, und plaudert, bis es abgeht: "Was? meint Ihr! Wort
hätt er nit g'halte! Eid hab er broche! schweiget nor Ihr da hube our solche
Sache! S'isch jo Mode so, se Sinn all nit andersch, des isch Alles Wut meine!
Mir hart jetz Aerbet gnung, un haut doch selber des 0ni-Zettele in d'Urne
werfe dürfe! Mit alli solchi Sache isch's nix meh! I bin z'sriede! -- (taumelt
und fällt in den Strom) Helft! helft! i persans! (die Wächter des Gesetzes ste¬
hen ruhig, die betrunkenen Freunde versuchen vergeblich, einen Nachen loszu¬
machen, um ihm zu Hilfe zu kommen, er schwimmt noch und ruft:) Um's Blut
und Wunde Christi Wille helfet mer! i kann nit meh! (die Wächter des Gesetzes
stehn ruhig; er sucht vergeblich sich an einem Ankerseil zu halten -- es gelingt
ihm nicht -- er ist ermüdet und in Verzweiflung; er ruft:) Ihr Racker, Ihr Ca¬
naille! Ihr lasset an' ehrliche Maun versaufe! Hecker hoch! (Er sinkt unter; auf
seinen letzten Ruf aber entsteht in der bewaffneten Macht ein höllischer Lärm:
"Greift ihn! fangt ihn, schließt ihn!" im Augenblick ist der Strom schwarz be¬
deckt mit Kähnen voll Bewaffneter; ^zwei Unterofficiere -- gute Schwimmer --
werfen sich in den Strom; der Schuhmacher ist gerettet, er lebt noch; man legt
ihn in einen Brückennachen, bis er sich so weit erholt hat, daß er gehn kann;
alsdann wird !er, scharf bewacht, in's Criminalgefängniß abgeführt, um wegen
"aufrührerischen Geschrei" vor's Kriegsgericht gestellt zu werdeu.) --

Man möge in dieser wahrhaften Geschichte an den braven Constablern und
Gendarmen die beunruhigenden Symptome nicht übersehen: den stieren Blick, die
Abgespanntheit, die plötzliche nervöse Aufregung, und man wird sich trauernd
sagen müssen, daß auch die größte Zuverlässigkeit des Charakters und der Gesin-
nung zuweilen nicht vor diesem Leiden schützt.

Doch das Uebel geht weiter. Einfache harmlose Privatmenschen, denen einst
Wohlwollen und Zutrauen zu der Menschheit ans den blühenden Wangen und
auf dem letzten offenen Knopfloch ihrer Hochgespanuten Weste saß, sind durch.die
letzten Jahre in argwöhnische, hitzige, aufgeregte, haßlustige Misanthropen ver¬
wandelt worden, welche ihren alten, treuen Kopf mit gräulichen Möglichkeiten
gefüllt herum tragen. Sie sehen noch immer betrunkene Bäuerlein mit rothen


drüber vertheile«; gefährliche Journalisten fahren auf allen Eisenbahnen hin und her,
um ruhige Unterthanen durch bösartige Zeitungsartikel zur Felonie zu verführen.
Natürlich steckt einiges Wahre dahinter, aber der Eiser und die Thätigkeit der
Verfolger ist unendlich viel größer, als der Eiser und die Intriguen der Uebel¬
thäter. Folgender Fall, welchen wir der Mittheilung zuverlässiger Beobachter
verdanken, sei ein Beispiel dieses Stadiums der Unpäßlichkeit.

Es ist Mariä Lied.tmeß Nachmittag 3 Uhr; an der fliegenden Brücke stehen
Soldaten von der Brückenwache, Zollschutzwächter und Gendarmen müßig und
gaffend. — Ein Schuhmachergesell aus dem Elsaß kommt aus dem Städtchen,
begleitet von seinen Freunden, die er besticht hat, und hat ein kleines Näuschle;
— er will übersetzen, und plaudert, bis es abgeht: „Was? meint Ihr! Wort
hätt er nit g'halte! Eid hab er broche! schweiget nor Ihr da hube our solche
Sache! S'isch jo Mode so, se Sinn all nit andersch, des isch Alles Wut meine!
Mir hart jetz Aerbet gnung, un haut doch selber des 0ni-Zettele in d'Urne
werfe dürfe! Mit alli solchi Sache isch's nix meh! I bin z'sriede! — (taumelt
und fällt in den Strom) Helft! helft! i persans! (die Wächter des Gesetzes ste¬
hen ruhig, die betrunkenen Freunde versuchen vergeblich, einen Nachen loszu¬
machen, um ihm zu Hilfe zu kommen, er schwimmt noch und ruft:) Um's Blut
und Wunde Christi Wille helfet mer! i kann nit meh! (die Wächter des Gesetzes
stehn ruhig; er sucht vergeblich sich an einem Ankerseil zu halten — es gelingt
ihm nicht — er ist ermüdet und in Verzweiflung; er ruft:) Ihr Racker, Ihr Ca¬
naille! Ihr lasset an' ehrliche Maun versaufe! Hecker hoch! (Er sinkt unter; auf
seinen letzten Ruf aber entsteht in der bewaffneten Macht ein höllischer Lärm:
„Greift ihn! fangt ihn, schließt ihn!" im Augenblick ist der Strom schwarz be¬
deckt mit Kähnen voll Bewaffneter; ^zwei Unterofficiere — gute Schwimmer —
werfen sich in den Strom; der Schuhmacher ist gerettet, er lebt noch; man legt
ihn in einen Brückennachen, bis er sich so weit erholt hat, daß er gehn kann;
alsdann wird !er, scharf bewacht, in's Criminalgefängniß abgeführt, um wegen
„aufrührerischen Geschrei" vor's Kriegsgericht gestellt zu werdeu.) —

Man möge in dieser wahrhaften Geschichte an den braven Constablern und
Gendarmen die beunruhigenden Symptome nicht übersehen: den stieren Blick, die
Abgespanntheit, die plötzliche nervöse Aufregung, und man wird sich trauernd
sagen müssen, daß auch die größte Zuverlässigkeit des Charakters und der Gesin-
nung zuweilen nicht vor diesem Leiden schützt.

Doch das Uebel geht weiter. Einfache harmlose Privatmenschen, denen einst
Wohlwollen und Zutrauen zu der Menschheit ans den blühenden Wangen und
auf dem letzten offenen Knopfloch ihrer Hochgespanuten Weste saß, sind durch.die
letzten Jahre in argwöhnische, hitzige, aufgeregte, haßlustige Misanthropen ver¬
wandelt worden, welche ihren alten, treuen Kopf mit gräulichen Möglichkeiten
gefüllt herum tragen. Sie sehen noch immer betrunkene Bäuerlein mit rothen


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[0321] drüber vertheile«; gefährliche Journalisten fahren auf allen Eisenbahnen hin und her, um ruhige Unterthanen durch bösartige Zeitungsartikel zur Felonie zu verführen. Natürlich steckt einiges Wahre dahinter, aber der Eiser und die Thätigkeit der Verfolger ist unendlich viel größer, als der Eiser und die Intriguen der Uebel¬ thäter. Folgender Fall, welchen wir der Mittheilung zuverlässiger Beobachter verdanken, sei ein Beispiel dieses Stadiums der Unpäßlichkeit. Es ist Mariä Lied.tmeß Nachmittag 3 Uhr; an der fliegenden Brücke stehen Soldaten von der Brückenwache, Zollschutzwächter und Gendarmen müßig und gaffend. — Ein Schuhmachergesell aus dem Elsaß kommt aus dem Städtchen, begleitet von seinen Freunden, die er besticht hat, und hat ein kleines Näuschle; — er will übersetzen, und plaudert, bis es abgeht: „Was? meint Ihr! Wort hätt er nit g'halte! Eid hab er broche! schweiget nor Ihr da hube our solche Sache! S'isch jo Mode so, se Sinn all nit andersch, des isch Alles Wut meine! Mir hart jetz Aerbet gnung, un haut doch selber des 0ni-Zettele in d'Urne werfe dürfe! Mit alli solchi Sache isch's nix meh! I bin z'sriede! — (taumelt und fällt in den Strom) Helft! helft! i persans! (die Wächter des Gesetzes ste¬ hen ruhig, die betrunkenen Freunde versuchen vergeblich, einen Nachen loszu¬ machen, um ihm zu Hilfe zu kommen, er schwimmt noch und ruft:) Um's Blut und Wunde Christi Wille helfet mer! i kann nit meh! (die Wächter des Gesetzes stehn ruhig; er sucht vergeblich sich an einem Ankerseil zu halten — es gelingt ihm nicht — er ist ermüdet und in Verzweiflung; er ruft:) Ihr Racker, Ihr Ca¬ naille! Ihr lasset an' ehrliche Maun versaufe! Hecker hoch! (Er sinkt unter; auf seinen letzten Ruf aber entsteht in der bewaffneten Macht ein höllischer Lärm: „Greift ihn! fangt ihn, schließt ihn!" im Augenblick ist der Strom schwarz be¬ deckt mit Kähnen voll Bewaffneter; ^zwei Unterofficiere — gute Schwimmer — werfen sich in den Strom; der Schuhmacher ist gerettet, er lebt noch; man legt ihn in einen Brückennachen, bis er sich so weit erholt hat, daß er gehn kann; alsdann wird !er, scharf bewacht, in's Criminalgefängniß abgeführt, um wegen „aufrührerischen Geschrei" vor's Kriegsgericht gestellt zu werdeu.) — Man möge in dieser wahrhaften Geschichte an den braven Constablern und Gendarmen die beunruhigenden Symptome nicht übersehen: den stieren Blick, die Abgespanntheit, die plötzliche nervöse Aufregung, und man wird sich trauernd sagen müssen, daß auch die größte Zuverlässigkeit des Charakters und der Gesin- nung zuweilen nicht vor diesem Leiden schützt. Doch das Uebel geht weiter. Einfache harmlose Privatmenschen, denen einst Wohlwollen und Zutrauen zu der Menschheit ans den blühenden Wangen und auf dem letzten offenen Knopfloch ihrer Hochgespanuten Weste saß, sind durch.die letzten Jahre in argwöhnische, hitzige, aufgeregte, haßlustige Misanthropen ver¬ wandelt worden, welche ihren alten, treuen Kopf mit gräulichen Möglichkeiten gefüllt herum tragen. Sie sehen noch immer betrunkene Bäuerlein mit rothen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/321>, abgerufen am 26.06.2024.