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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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dem Repertoir bleiben, und das ist ein großer Gewinn. Die Leute müssen end¬
lich zum Bewußtsein kommen, daß man auch ohne gezwungene und unnatürliche
Effecte, ohne Gewaltschreie und Spectakel einen musikalischen Genuß haben kann.
Das Pariser Publicum wird vielleicht endlich einsehen lernen, daß Reichthum der
Jnstrumentation organisch mit der dramatischen Melodie verwachsen sein kann, und
uicht, wie zuweilen beim französischen Meyerbeer, oder immer beim ganz frcmzöst-
chen Berlioz, übertriebene" Effecthascherei und marktschreierische Lärmsucht. Hiller
hat jedenfalls ein verdienstliches Werk vollbracht, schon ans dem Grunde, daß
er die hiesigen Musiker wieder zur Discussion zwingt. Sie werden wüthend über
ihn herfallen, und vielleicht schlägt ihn ein heißblütiger Italiener todt, vielleicht
ersticht ihn ein Franzose aus Nationaleitelkeit -- das macht aber Nichts -- der
Fidelio hat ihnen doch ein GuckuckSei ins Nest gelegt, und Ander, Adam, Halevy,
e WM ForanU werden zur überraschenden Einsicht gelangen, daß sie den soliden
Geschmack noch nicht ganz zum Verenden gebracht. Ueberdies ist die Oper mit
größtem Erfolge bis jetzt zwei Mal wiederholt worden.

Auf den anderen Bühnen ist nur wenig los, und wer jetzt über das fran¬
zösische Theater zu schreiben gezwungen ist, hat eine schwierige Aufgabe. Fast
will es uns bedünken, daß den Franzosen über der Verblüffung nach dem
zweiten December der Witz ausgegangen ist. Sie sind zu gute Speculanten,
um nicht zu begreifen, daß sich in diesem Augenblick ein guter gesunder
Kernspaß vortrefflich rentiren müßte, und wenn sie nicht mit einem solchen
hervorrücken, ist blos ihre Ohnmacht schuld darau. Die große Oper, das
^Küüti's ?ranya,i8 leben nur von Versprechungen und ihrem alten Repertoir. --
Die Boulevardtheater.kehren dem Vampyre und anderen Hexereien den Rücken,
um den Fischweibern in die Arme zu fallen, aber das sind auch erst zukünftige
Produktionen, die Gegenwart bietet uns Nichts, und Musard Vater und Sohn
sind die einzigen zwei Personen in Paris, die so recht Bewegung in unser Leben
zu bringen wissen. Je weniger die Theaterdichter thun, um so thätiger sind
unsre Schauspielerinnen, und wenn wir der bösen Fama des Foyers trauen dürfen,
wird der Carneval nicht ohne Faschingsspäße vorübergehen. Seit die Polizei
verboten hat, in den Foyer's von Politik zu sprechen, hält die Otu-oMue sog,n-
6a.1<zu86 wieder das Terrain allein besetzt, und ich könnte, wie Döbler mit seinen
Sträußchen, die Canaans über den Rhein werfen ohne Ende, und so lauge es
nnr gewünscht wird. Am komischsten ist die Heirathswuth, welche sich der schau¬
spielenden Damenwelt bemächtigt hat. -- Ich weiß nicht, ob der zweite December
neben der Gesellschaft auch die Moral gerettet hat, genug, die Schauspielerinnen,
die kleinen Sünderinnen von allen Bühnen wollen sich bekehren und gute Haus¬
frauen werden, nachdem sie Frauen von Haus aus gewesen. Mademoiselle Doche
vom Vaudeville, die zu den berühmtesten Schauspielerinnen gehört -- und zwar ist
die markirteste Seite dieser Berühmtheit nicht die dramatische, -- hat ihr Auge


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dem Repertoir bleiben, und das ist ein großer Gewinn. Die Leute müssen end¬
lich zum Bewußtsein kommen, daß man auch ohne gezwungene und unnatürliche
Effecte, ohne Gewaltschreie und Spectakel einen musikalischen Genuß haben kann.
Das Pariser Publicum wird vielleicht endlich einsehen lernen, daß Reichthum der
Jnstrumentation organisch mit der dramatischen Melodie verwachsen sein kann, und
uicht, wie zuweilen beim französischen Meyerbeer, oder immer beim ganz frcmzöst-
chen Berlioz, übertriebene" Effecthascherei und marktschreierische Lärmsucht. Hiller
hat jedenfalls ein verdienstliches Werk vollbracht, schon ans dem Grunde, daß
er die hiesigen Musiker wieder zur Discussion zwingt. Sie werden wüthend über
ihn herfallen, und vielleicht schlägt ihn ein heißblütiger Italiener todt, vielleicht
ersticht ihn ein Franzose aus Nationaleitelkeit — das macht aber Nichts — der
Fidelio hat ihnen doch ein GuckuckSei ins Nest gelegt, und Ander, Adam, Halevy,
e WM ForanU werden zur überraschenden Einsicht gelangen, daß sie den soliden
Geschmack noch nicht ganz zum Verenden gebracht. Ueberdies ist die Oper mit
größtem Erfolge bis jetzt zwei Mal wiederholt worden.

Auf den anderen Bühnen ist nur wenig los, und wer jetzt über das fran¬
zösische Theater zu schreiben gezwungen ist, hat eine schwierige Aufgabe. Fast
will es uns bedünken, daß den Franzosen über der Verblüffung nach dem
zweiten December der Witz ausgegangen ist. Sie sind zu gute Speculanten,
um nicht zu begreifen, daß sich in diesem Augenblick ein guter gesunder
Kernspaß vortrefflich rentiren müßte, und wenn sie nicht mit einem solchen
hervorrücken, ist blos ihre Ohnmacht schuld darau. Die große Oper, das
^Küüti's ?ranya,i8 leben nur von Versprechungen und ihrem alten Repertoir. —
Die Boulevardtheater.kehren dem Vampyre und anderen Hexereien den Rücken,
um den Fischweibern in die Arme zu fallen, aber das sind auch erst zukünftige
Produktionen, die Gegenwart bietet uns Nichts, und Musard Vater und Sohn
sind die einzigen zwei Personen in Paris, die so recht Bewegung in unser Leben
zu bringen wissen. Je weniger die Theaterdichter thun, um so thätiger sind
unsre Schauspielerinnen, und wenn wir der bösen Fama des Foyers trauen dürfen,
wird der Carneval nicht ohne Faschingsspäße vorübergehen. Seit die Polizei
verboten hat, in den Foyer's von Politik zu sprechen, hält die Otu-oMue sog,n-
6a.1<zu86 wieder das Terrain allein besetzt, und ich könnte, wie Döbler mit seinen
Sträußchen, die Canaans über den Rhein werfen ohne Ende, und so lauge es
nnr gewünscht wird. Am komischsten ist die Heirathswuth, welche sich der schau¬
spielenden Damenwelt bemächtigt hat. — Ich weiß nicht, ob der zweite December
neben der Gesellschaft auch die Moral gerettet hat, genug, die Schauspielerinnen,
die kleinen Sünderinnen von allen Bühnen wollen sich bekehren und gute Haus¬
frauen werden, nachdem sie Frauen von Haus aus gewesen. Mademoiselle Doche
vom Vaudeville, die zu den berühmtesten Schauspielerinnen gehört — und zwar ist
die markirteste Seite dieser Berühmtheit nicht die dramatische, — hat ihr Auge


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[0317] dem Repertoir bleiben, und das ist ein großer Gewinn. Die Leute müssen end¬ lich zum Bewußtsein kommen, daß man auch ohne gezwungene und unnatürliche Effecte, ohne Gewaltschreie und Spectakel einen musikalischen Genuß haben kann. Das Pariser Publicum wird vielleicht endlich einsehen lernen, daß Reichthum der Jnstrumentation organisch mit der dramatischen Melodie verwachsen sein kann, und uicht, wie zuweilen beim französischen Meyerbeer, oder immer beim ganz frcmzöst- chen Berlioz, übertriebene" Effecthascherei und marktschreierische Lärmsucht. Hiller hat jedenfalls ein verdienstliches Werk vollbracht, schon ans dem Grunde, daß er die hiesigen Musiker wieder zur Discussion zwingt. Sie werden wüthend über ihn herfallen, und vielleicht schlägt ihn ein heißblütiger Italiener todt, vielleicht ersticht ihn ein Franzose aus Nationaleitelkeit — das macht aber Nichts — der Fidelio hat ihnen doch ein GuckuckSei ins Nest gelegt, und Ander, Adam, Halevy, e WM ForanU werden zur überraschenden Einsicht gelangen, daß sie den soliden Geschmack noch nicht ganz zum Verenden gebracht. Ueberdies ist die Oper mit größtem Erfolge bis jetzt zwei Mal wiederholt worden. Auf den anderen Bühnen ist nur wenig los, und wer jetzt über das fran¬ zösische Theater zu schreiben gezwungen ist, hat eine schwierige Aufgabe. Fast will es uns bedünken, daß den Franzosen über der Verblüffung nach dem zweiten December der Witz ausgegangen ist. Sie sind zu gute Speculanten, um nicht zu begreifen, daß sich in diesem Augenblick ein guter gesunder Kernspaß vortrefflich rentiren müßte, und wenn sie nicht mit einem solchen hervorrücken, ist blos ihre Ohnmacht schuld darau. Die große Oper, das ^Küüti's ?ranya,i8 leben nur von Versprechungen und ihrem alten Repertoir. — Die Boulevardtheater.kehren dem Vampyre und anderen Hexereien den Rücken, um den Fischweibern in die Arme zu fallen, aber das sind auch erst zukünftige Produktionen, die Gegenwart bietet uns Nichts, und Musard Vater und Sohn sind die einzigen zwei Personen in Paris, die so recht Bewegung in unser Leben zu bringen wissen. Je weniger die Theaterdichter thun, um so thätiger sind unsre Schauspielerinnen, und wenn wir der bösen Fama des Foyers trauen dürfen, wird der Carneval nicht ohne Faschingsspäße vorübergehen. Seit die Polizei verboten hat, in den Foyer's von Politik zu sprechen, hält die Otu-oMue sog,n- 6a.1<zu86 wieder das Terrain allein besetzt, und ich könnte, wie Döbler mit seinen Sträußchen, die Canaans über den Rhein werfen ohne Ende, und so lauge es nnr gewünscht wird. Am komischsten ist die Heirathswuth, welche sich der schau¬ spielenden Damenwelt bemächtigt hat. — Ich weiß nicht, ob der zweite December neben der Gesellschaft auch die Moral gerettet hat, genug, die Schauspielerinnen, die kleinen Sünderinnen von allen Bühnen wollen sich bekehren und gute Haus¬ frauen werden, nachdem sie Frauen von Haus aus gewesen. Mademoiselle Doche vom Vaudeville, die zu den berühmtesten Schauspielerinnen gehört — und zwar ist die markirteste Seite dieser Berühmtheit nicht die dramatische, — hat ihr Auge 39*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/317>, abgerufen am 22.07.2024.