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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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schlich durch irgend ein anderes, unschätzbar. Was ich aber jetzt noch schließlich
anführe, dessen Werth ist in kunstgeschichtlicher Hinsicht noch gesteigert durch die
Seltenheit echter und wohlerhaltener Werke des Meisters. Ich meine die Zeich¬
nungen von Leonardo da Vinci, die von der Fran Erbgroßherzogin vor
einem Jahre bei der Versteigerung im Haag erstanden wurden. Es sind Haupt¬
theile seines bedeutendsten Werks, des Abendmahls, das er im Speisesaal des
Klosters delle Grazie zu Mailand gemalt hat, nämlich die lebensgroßen Brust¬
bilder mit Händen vou zehn Aposteln, in schwarzer Kreide und Pastellfarben
ausgeführt. Diese 10 Bilder befinde" sich auf 8 gleichgroßen Blättern, indem
6 Blätter einzelne Brustbilder, 2 aber jedesmal zwei Köpfe beisammen enthalten.
Drei Blätter haben dazu gehört (mit dem Bilde Christi, des Thaddäus, des
Simon), und die Vertheilung dieser 13 Figuren auf 11 Blatter hatte Leonardo
theils durch Anschließung in der Linienfolge, theils durch Partien-Wiederholung
so eingerichtet, daß das Grnppenverhältniß und die ^ete der Motive sich völlig
darstellen. Die 3 uns fehlenden Blätter sollen in England im Besitz einer
Dame sein; nach anderer Angabe eines derselben in Italien. Als der König
der Niederlande jene 10 Bilder, welche Lawrence gehabt, dem Kunsthändler
Woodburn abgekauft hatte, ließ er zwei der fehlenden (Christus und Thaddäus)
durch Krnsemann copiren. Diese also haben wir wenigstens in Nachbildern auch;
und das Bild des Simon ist es allein, das uns ganz sehlt. Daß Leonardo
diese Pastellbilder gemacht, ist schon im nächsten Geschlecht nach ihm bezeugt,
auch urkundlich gewiß, daß sie uoch 172Ä in Mailand waren, hierauf uach Ve¬
nedig und etwa 30 Jahre später nach England kamen, woselbst aber das
Christusbild nicht mehr dabei gewesen sein soll; und was nachmals Lawrence
von Sir Thomas Baring erhielt, waren nur unsre 10 Apostelbilder. Wer
übrigens diese aufmerksam erfaßt, bedarf keines äußern Zeugnisses für ihre Echt¬
heit. Ihre Erhaltung ist ungleich; stellenweise ist die Farbe entwichen oder ver¬
blaßt, stellenweise hat ihr Verwischtwerden und Fließen Flecken erzeugt. Solche
Flecken zu beruhige", wie auch mitunter die Contouren mehr vortreten zu ma¬
chen, haben spätere Hände schlichte Kreideschrasflrnngen drüber und dran gelegt;
im Uebrigen sieht man deutlich geung die ganz eigenthümliche Zeichnung Leonar¬
do's, welche die ruhig geführten Strichlagen leicht verbindet, und in einer Weise,
der nicht nachzukommen ist, zarte Lichtabstände und eine ebeu so großartige als
feine Modelliruug erreicht. Was uoch mehr ergreift, ist der sicher geprägte Cha¬
rakter, der "nicht nnr aus den wohlerhaltenen, sondern selbst aus den merklich
beschädigten Köpfen unverwüstlich wirkt. Und was über Alles geht, ist der einige
Geist, der diese Bildungen durchhaucht. Er giebt das unmittelbarste, sicherste
Zeugniß ihrer Ursprünglichkeit. Und diese Seele, welche Gedanken und Vortrag
so einstimmig macht, ist bei ihrer Stärke von einem Ernst, bei ihrer Größe von
einer Schlichtheit, daß man im Leonardo selbst bei seiner jugendlich männlichen


schlich durch irgend ein anderes, unschätzbar. Was ich aber jetzt noch schließlich
anführe, dessen Werth ist in kunstgeschichtlicher Hinsicht noch gesteigert durch die
Seltenheit echter und wohlerhaltener Werke des Meisters. Ich meine die Zeich¬
nungen von Leonardo da Vinci, die von der Fran Erbgroßherzogin vor
einem Jahre bei der Versteigerung im Haag erstanden wurden. Es sind Haupt¬
theile seines bedeutendsten Werks, des Abendmahls, das er im Speisesaal des
Klosters delle Grazie zu Mailand gemalt hat, nämlich die lebensgroßen Brust¬
bilder mit Händen vou zehn Aposteln, in schwarzer Kreide und Pastellfarben
ausgeführt. Diese 10 Bilder befinde« sich auf 8 gleichgroßen Blättern, indem
6 Blätter einzelne Brustbilder, 2 aber jedesmal zwei Köpfe beisammen enthalten.
Drei Blätter haben dazu gehört (mit dem Bilde Christi, des Thaddäus, des
Simon), und die Vertheilung dieser 13 Figuren auf 11 Blatter hatte Leonardo
theils durch Anschließung in der Linienfolge, theils durch Partien-Wiederholung
so eingerichtet, daß das Grnppenverhältniß und die ^ete der Motive sich völlig
darstellen. Die 3 uns fehlenden Blätter sollen in England im Besitz einer
Dame sein; nach anderer Angabe eines derselben in Italien. Als der König
der Niederlande jene 10 Bilder, welche Lawrence gehabt, dem Kunsthändler
Woodburn abgekauft hatte, ließ er zwei der fehlenden (Christus und Thaddäus)
durch Krnsemann copiren. Diese also haben wir wenigstens in Nachbildern auch;
und das Bild des Simon ist es allein, das uns ganz sehlt. Daß Leonardo
diese Pastellbilder gemacht, ist schon im nächsten Geschlecht nach ihm bezeugt,
auch urkundlich gewiß, daß sie uoch 172Ä in Mailand waren, hierauf uach Ve¬
nedig und etwa 30 Jahre später nach England kamen, woselbst aber das
Christusbild nicht mehr dabei gewesen sein soll; und was nachmals Lawrence
von Sir Thomas Baring erhielt, waren nur unsre 10 Apostelbilder. Wer
übrigens diese aufmerksam erfaßt, bedarf keines äußern Zeugnisses für ihre Echt¬
heit. Ihre Erhaltung ist ungleich; stellenweise ist die Farbe entwichen oder ver¬
blaßt, stellenweise hat ihr Verwischtwerden und Fließen Flecken erzeugt. Solche
Flecken zu beruhige«, wie auch mitunter die Contouren mehr vortreten zu ma¬
chen, haben spätere Hände schlichte Kreideschrasflrnngen drüber und dran gelegt;
im Uebrigen sieht man deutlich geung die ganz eigenthümliche Zeichnung Leonar¬
do's, welche die ruhig geführten Strichlagen leicht verbindet, und in einer Weise,
der nicht nachzukommen ist, zarte Lichtabstände und eine ebeu so großartige als
feine Modelliruug erreicht. Was uoch mehr ergreift, ist der sicher geprägte Cha¬
rakter, der »nicht nnr aus den wohlerhaltenen, sondern selbst aus den merklich
beschädigten Köpfen unverwüstlich wirkt. Und was über Alles geht, ist der einige
Geist, der diese Bildungen durchhaucht. Er giebt das unmittelbarste, sicherste
Zeugniß ihrer Ursprünglichkeit. Und diese Seele, welche Gedanken und Vortrag
so einstimmig macht, ist bei ihrer Stärke von einem Ernst, bei ihrer Größe von
einer Schlichtheit, daß man im Leonardo selbst bei seiner jugendlich männlichen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/272>, abgerufen am 22.07.2024.