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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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keine Kleinigkeit, gegen die herrschenden Mächte zu Felde zu ziehen, aber die da¬
maligen revolutionairen Schriftsteller hielten es für ihren Beruf, für ihre Sache
zu leiden. Heut zu Tage möchte mau gern das Nützliche mit dem Angenehmen
vereinigen. "Hätte sich nicht aus der Wally," fragt Gutzkow, "ein leidlicher Ent¬
wickelungsgang prognosticiren lassen, wenn man ans zehn Jahr nicht dem Autor einen
Todschrecken in die Finger gejagt und ihn gezwungen hätte, in Allem, was
er ferner gab, sich gleichsam gegen sich selbst zu verwahren? Wenigstens gedenkt
er mit Wehmuth der Nothwendigkeit, daß er sich vor einer so gehässigen Polizei-
controle, wie ihm von Stund' an über seine Feder als Wächter gestellt wurde,
in einer wahren Lammesunschuld darstellen sollte, und einige Jahre hindurch den
leitenden Faden seines inneren bewußten Selbsts im Literatur¬
labyrinthe fast verlor." -- Allerdings war jene Maßregel des Bundestags,
welche die noch nngeschaffenen literarischen Leistungen einer ganzen Reihe von
Schriftstellern verdächtigte, oder geradezu verurtheilte, eine Rechtswidrigkeit, die
uns noch heute empören muß, aber -- wer sich so leicht "einen Todschrecken in
die Finger jagen läßt", wer so leicht "im Literaturlabyrinth das Bewußtsein
seines inneren Selbsts verliert", der sollte sich auch nicht als Reformator geberden.
Zu einem Reformator gehört ein eiserner Charakter, der sich von äußeren Ver¬
folgungen oder vou dem Haß der Menge eben so wenig einschüchtern, als von
ihrem Beifall und ihren Schmeicheleien verblende" läßt. Einen solchen Charakter
besitzt Gutzkow nicht; er ist im Gegentheil fortwährend abhängig von den Mei¬
nungen des Publicums. Dieses geht so weit, daß er in einer großen Zahl
seiner Dramen sich durch das Mißfallen desselben hat bestimmen lassen, den Aus¬
gang seiner Geschichte, also geradezu den Knotenpunkt, wesentlich zu verändern.
Damit soll nicht gesagt sein, daß er nnr im Sinne der Menge schriebe; im Ge¬
gentheil charakterisirt ihn neben jener Abhängigkeit auch, eine sehr große Elasti¬
cität des Geistes, die mit eiuer gewissen Vorliebe nach Paradoxien hascht, und
die häufig auf überraschende, zuweilen auch auf treffende Einfälle kommt. Aber
das Eine wird dnrch das Andere verkümmert, und er bringt es weder zu künst¬
lerischer Autonomie, noch zu kritischer Freiheit.

Was die Wally betrifft, so können wir dem Urtheil des Verfassers, dem der
Roman in künstlerischer Beziehung ziemlich gelungen scheint, nicht beipflichten;
eben so wenig aber auch jener Verurtheilung, die in diesem Buch die sämmtlichen
Sünden der damaligen Literatur zusammenzulaufen suchte. Die Wally ist
keineswegs die erste Quelle der-Verirrungen unsrer Literatur; sie ist nichts An¬
deres, als eine neue Variation über das Thema der ein Jahr vorher erschienenen
Lelia, mit einigen Anklängen an den Werther und an die Lucinde. Die Ansichten
über die Religion, unter denen sich übrigens einige ganz vortreffliche Einfälle
finden, sind jetzt durch viel ernstere Angriffe vollkommen in Schatten gestellt; ja
selbst in diesen Ansichten erschrickt der Verfasser über, seine eigene Kühnheit und,


keine Kleinigkeit, gegen die herrschenden Mächte zu Felde zu ziehen, aber die da¬
maligen revolutionairen Schriftsteller hielten es für ihren Beruf, für ihre Sache
zu leiden. Heut zu Tage möchte mau gern das Nützliche mit dem Angenehmen
vereinigen. „Hätte sich nicht aus der Wally," fragt Gutzkow, „ein leidlicher Ent¬
wickelungsgang prognosticiren lassen, wenn man ans zehn Jahr nicht dem Autor einen
Todschrecken in die Finger gejagt und ihn gezwungen hätte, in Allem, was
er ferner gab, sich gleichsam gegen sich selbst zu verwahren? Wenigstens gedenkt
er mit Wehmuth der Nothwendigkeit, daß er sich vor einer so gehässigen Polizei-
controle, wie ihm von Stund' an über seine Feder als Wächter gestellt wurde,
in einer wahren Lammesunschuld darstellen sollte, und einige Jahre hindurch den
leitenden Faden seines inneren bewußten Selbsts im Literatur¬
labyrinthe fast verlor." — Allerdings war jene Maßregel des Bundestags,
welche die noch nngeschaffenen literarischen Leistungen einer ganzen Reihe von
Schriftstellern verdächtigte, oder geradezu verurtheilte, eine Rechtswidrigkeit, die
uns noch heute empören muß, aber — wer sich so leicht „einen Todschrecken in
die Finger jagen läßt", wer so leicht „im Literaturlabyrinth das Bewußtsein
seines inneren Selbsts verliert", der sollte sich auch nicht als Reformator geberden.
Zu einem Reformator gehört ein eiserner Charakter, der sich von äußeren Ver¬
folgungen oder vou dem Haß der Menge eben so wenig einschüchtern, als von
ihrem Beifall und ihren Schmeicheleien verblende» läßt. Einen solchen Charakter
besitzt Gutzkow nicht; er ist im Gegentheil fortwährend abhängig von den Mei¬
nungen des Publicums. Dieses geht so weit, daß er in einer großen Zahl
seiner Dramen sich durch das Mißfallen desselben hat bestimmen lassen, den Aus¬
gang seiner Geschichte, also geradezu den Knotenpunkt, wesentlich zu verändern.
Damit soll nicht gesagt sein, daß er nnr im Sinne der Menge schriebe; im Ge¬
gentheil charakterisirt ihn neben jener Abhängigkeit auch, eine sehr große Elasti¬
cität des Geistes, die mit eiuer gewissen Vorliebe nach Paradoxien hascht, und
die häufig auf überraschende, zuweilen auch auf treffende Einfälle kommt. Aber
das Eine wird dnrch das Andere verkümmert, und er bringt es weder zu künst¬
lerischer Autonomie, noch zu kritischer Freiheit.

Was die Wally betrifft, so können wir dem Urtheil des Verfassers, dem der
Roman in künstlerischer Beziehung ziemlich gelungen scheint, nicht beipflichten;
eben so wenig aber auch jener Verurtheilung, die in diesem Buch die sämmtlichen
Sünden der damaligen Literatur zusammenzulaufen suchte. Die Wally ist
keineswegs die erste Quelle der-Verirrungen unsrer Literatur; sie ist nichts An¬
deres, als eine neue Variation über das Thema der ein Jahr vorher erschienenen
Lelia, mit einigen Anklängen an den Werther und an die Lucinde. Die Ansichten
über die Religion, unter denen sich übrigens einige ganz vortreffliche Einfälle
finden, sind jetzt durch viel ernstere Angriffe vollkommen in Schatten gestellt; ja
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[0228] keine Kleinigkeit, gegen die herrschenden Mächte zu Felde zu ziehen, aber die da¬ maligen revolutionairen Schriftsteller hielten es für ihren Beruf, für ihre Sache zu leiden. Heut zu Tage möchte mau gern das Nützliche mit dem Angenehmen vereinigen. „Hätte sich nicht aus der Wally," fragt Gutzkow, „ein leidlicher Ent¬ wickelungsgang prognosticiren lassen, wenn man ans zehn Jahr nicht dem Autor einen Todschrecken in die Finger gejagt und ihn gezwungen hätte, in Allem, was er ferner gab, sich gleichsam gegen sich selbst zu verwahren? Wenigstens gedenkt er mit Wehmuth der Nothwendigkeit, daß er sich vor einer so gehässigen Polizei- controle, wie ihm von Stund' an über seine Feder als Wächter gestellt wurde, in einer wahren Lammesunschuld darstellen sollte, und einige Jahre hindurch den leitenden Faden seines inneren bewußten Selbsts im Literatur¬ labyrinthe fast verlor." — Allerdings war jene Maßregel des Bundestags, welche die noch nngeschaffenen literarischen Leistungen einer ganzen Reihe von Schriftstellern verdächtigte, oder geradezu verurtheilte, eine Rechtswidrigkeit, die uns noch heute empören muß, aber — wer sich so leicht „einen Todschrecken in die Finger jagen läßt", wer so leicht „im Literaturlabyrinth das Bewußtsein seines inneren Selbsts verliert", der sollte sich auch nicht als Reformator geberden. Zu einem Reformator gehört ein eiserner Charakter, der sich von äußeren Ver¬ folgungen oder vou dem Haß der Menge eben so wenig einschüchtern, als von ihrem Beifall und ihren Schmeicheleien verblende» läßt. Einen solchen Charakter besitzt Gutzkow nicht; er ist im Gegentheil fortwährend abhängig von den Mei¬ nungen des Publicums. Dieses geht so weit, daß er in einer großen Zahl seiner Dramen sich durch das Mißfallen desselben hat bestimmen lassen, den Aus¬ gang seiner Geschichte, also geradezu den Knotenpunkt, wesentlich zu verändern. Damit soll nicht gesagt sein, daß er nnr im Sinne der Menge schriebe; im Ge¬ gentheil charakterisirt ihn neben jener Abhängigkeit auch, eine sehr große Elasti¬ cität des Geistes, die mit eiuer gewissen Vorliebe nach Paradoxien hascht, und die häufig auf überraschende, zuweilen auch auf treffende Einfälle kommt. Aber das Eine wird dnrch das Andere verkümmert, und er bringt es weder zu künst¬ lerischer Autonomie, noch zu kritischer Freiheit. Was die Wally betrifft, so können wir dem Urtheil des Verfassers, dem der Roman in künstlerischer Beziehung ziemlich gelungen scheint, nicht beipflichten; eben so wenig aber auch jener Verurtheilung, die in diesem Buch die sämmtlichen Sünden der damaligen Literatur zusammenzulaufen suchte. Die Wally ist keineswegs die erste Quelle der-Verirrungen unsrer Literatur; sie ist nichts An¬ deres, als eine neue Variation über das Thema der ein Jahr vorher erschienenen Lelia, mit einigen Anklängen an den Werther und an die Lucinde. Die Ansichten über die Religion, unter denen sich übrigens einige ganz vortreffliche Einfälle finden, sind jetzt durch viel ernstere Angriffe vollkommen in Schatten gestellt; ja selbst in diesen Ansichten erschrickt der Verfasser über, seine eigene Kühnheit und,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/228>, abgerufen am 22.07.2024.