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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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den Menschenverstand" von Gutzkow selbst, und ein "Sendschreiben an den Ver¬
fasser der Wally" vom Kirchenrach Paulus.

Gutzkow geht in der Vorrede, vielleicht ohne, es zu wissen, von zwei ziemlich
entgegengesetzten Gesichtspunkten aus. Einmal kommt es ihm darauf an, den
Ton der "Apellation" festzuhalten, und Menzel als einen Verläumder und falschen
Ankläger darzustellen. Nach dieser Version ist Wally nur vom künstlerischen
Standpunkt zu betrachten; der Dichter hat ein Seelengemälde darstellen wollen,
und zur Psychologischen Erläuterung des Charakters seiner Heldin verschiedene
religiöse Reflexionen eingestreut, die nur als Aeußerung einer individuellen
Natur gelten sollen. Er hat also unschuldig gelitten, als man ihn wegen einer
Lästerung der Religion auf einige Monate ins Gefängniß steckte.

Auf der andern Seite kommt es ihm aber wieder darauf an, jener Schrift
eine tiefere Bedeutung unterzulegen, als die eines bloßen psychologischen Romans.
Er gesteht also ein, daß das psychologische Problem wirklich uicht die Hauptsache
gewesen ist. "Ach," ruft er aus, "diese Goliaths, die das kleine Büchlein massa-
crirten, hatten vollkommen Recht, wenn sie die romantische Einkleidung des
Ganzen für eine Bagatelle erklärten, die für den Autor nur in zweiter In¬
stanz Werth haben konnte, während die polemische Tendenz gegen die Ansprüche
des Theologen- und Kircheuthums ihm die Hauptsache war!" -- Nach dieser
Version hat also das Gericht, wenn es ihn wegen der Lästerungen des bestehenden
Theologen- und Kircheuthums verurtheilte, wenigstens in juristischem Sinne Recht
gehabt.

Das ist eine sonderbare Verwirrung der Gesichtspunkte, die aber für Gutz¬
kow charakteristisch ist. Nicht nur in seiner Wally, sondern in seinen sämmtlichen
poetischen Werken, vom ersten bis zum letzten, ist neben der künstlerischen Tendenz,
deren Wesen doch darin besteht, daß sie für die Ewigkeit schaffen will, die jour¬
nalistische Tendenz gegangen. Bewußt oder unbewußt, hat er Jahr für Jahr
auf die herrschenden Stimmungen und Leidenschaften der Menge gelauscht, und
diesen entweder geschmeichelt, oder auch gegen sie polemisirt. Wir wollen dieses
Bestreben an sich nicht tadeln. Zwar ist eine künstlerische Vollendung unmöglich,
wenn der Dichter vou der Tagesstimmung abhängig ist, allein jene andere Seite
des Schaffens hat auch ihre vollkommene Berechtigung, und wer sür diese kriti¬
sche Thätigkeit die halb oder ganz poetische Form vorzieht, wird darau vollkommen
Recht thun, wenn er nur über seinen Zweck im Klaren ist. Auch Voltaire,
Rousseau u. s. w. haben zum Theil ihre Polemik gegen die herrschenden Ansichten
in novellistische Form gekleidet. Aber diese Männer handelten im vollem Glauben,
in einer energischen Begeisterung sür ihre Idee, die darum nicht weniger intensiv
war, weil sie die Form des Hasses, des Spottes und des Hohnes annahm. Sie
haben sich durch Bastillen, durch Verfolgungen, Verbannungen, Confiscationen
ihrer Bücher u. s. w. nicht einschüchtern lassen. Es war im 18. Jahrhundert


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den Menschenverstand" von Gutzkow selbst, und ein „Sendschreiben an den Ver¬
fasser der Wally" vom Kirchenrach Paulus.

Gutzkow geht in der Vorrede, vielleicht ohne, es zu wissen, von zwei ziemlich
entgegengesetzten Gesichtspunkten aus. Einmal kommt es ihm darauf an, den
Ton der „Apellation" festzuhalten, und Menzel als einen Verläumder und falschen
Ankläger darzustellen. Nach dieser Version ist Wally nur vom künstlerischen
Standpunkt zu betrachten; der Dichter hat ein Seelengemälde darstellen wollen,
und zur Psychologischen Erläuterung des Charakters seiner Heldin verschiedene
religiöse Reflexionen eingestreut, die nur als Aeußerung einer individuellen
Natur gelten sollen. Er hat also unschuldig gelitten, als man ihn wegen einer
Lästerung der Religion auf einige Monate ins Gefängniß steckte.

Auf der andern Seite kommt es ihm aber wieder darauf an, jener Schrift
eine tiefere Bedeutung unterzulegen, als die eines bloßen psychologischen Romans.
Er gesteht also ein, daß das psychologische Problem wirklich uicht die Hauptsache
gewesen ist. „Ach," ruft er aus, „diese Goliaths, die das kleine Büchlein massa-
crirten, hatten vollkommen Recht, wenn sie die romantische Einkleidung des
Ganzen für eine Bagatelle erklärten, die für den Autor nur in zweiter In¬
stanz Werth haben konnte, während die polemische Tendenz gegen die Ansprüche
des Theologen- und Kircheuthums ihm die Hauptsache war!" — Nach dieser
Version hat also das Gericht, wenn es ihn wegen der Lästerungen des bestehenden
Theologen- und Kircheuthums verurtheilte, wenigstens in juristischem Sinne Recht
gehabt.

Das ist eine sonderbare Verwirrung der Gesichtspunkte, die aber für Gutz¬
kow charakteristisch ist. Nicht nur in seiner Wally, sondern in seinen sämmtlichen
poetischen Werken, vom ersten bis zum letzten, ist neben der künstlerischen Tendenz,
deren Wesen doch darin besteht, daß sie für die Ewigkeit schaffen will, die jour¬
nalistische Tendenz gegangen. Bewußt oder unbewußt, hat er Jahr für Jahr
auf die herrschenden Stimmungen und Leidenschaften der Menge gelauscht, und
diesen entweder geschmeichelt, oder auch gegen sie polemisirt. Wir wollen dieses
Bestreben an sich nicht tadeln. Zwar ist eine künstlerische Vollendung unmöglich,
wenn der Dichter vou der Tagesstimmung abhängig ist, allein jene andere Seite
des Schaffens hat auch ihre vollkommene Berechtigung, und wer sür diese kriti¬
sche Thätigkeit die halb oder ganz poetische Form vorzieht, wird darau vollkommen
Recht thun, wenn er nur über seinen Zweck im Klaren ist. Auch Voltaire,
Rousseau u. s. w. haben zum Theil ihre Polemik gegen die herrschenden Ansichten
in novellistische Form gekleidet. Aber diese Männer handelten im vollem Glauben,
in einer energischen Begeisterung sür ihre Idee, die darum nicht weniger intensiv
war, weil sie die Form des Hasses, des Spottes und des Hohnes annahm. Sie
haben sich durch Bastillen, durch Verfolgungen, Verbannungen, Confiscationen
ihrer Bücher u. s. w. nicht einschüchtern lassen. Es war im 18. Jahrhundert


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[0227] den Menschenverstand" von Gutzkow selbst, und ein „Sendschreiben an den Ver¬ fasser der Wally" vom Kirchenrach Paulus. Gutzkow geht in der Vorrede, vielleicht ohne, es zu wissen, von zwei ziemlich entgegengesetzten Gesichtspunkten aus. Einmal kommt es ihm darauf an, den Ton der „Apellation" festzuhalten, und Menzel als einen Verläumder und falschen Ankläger darzustellen. Nach dieser Version ist Wally nur vom künstlerischen Standpunkt zu betrachten; der Dichter hat ein Seelengemälde darstellen wollen, und zur Psychologischen Erläuterung des Charakters seiner Heldin verschiedene religiöse Reflexionen eingestreut, die nur als Aeußerung einer individuellen Natur gelten sollen. Er hat also unschuldig gelitten, als man ihn wegen einer Lästerung der Religion auf einige Monate ins Gefängniß steckte. Auf der andern Seite kommt es ihm aber wieder darauf an, jener Schrift eine tiefere Bedeutung unterzulegen, als die eines bloßen psychologischen Romans. Er gesteht also ein, daß das psychologische Problem wirklich uicht die Hauptsache gewesen ist. „Ach," ruft er aus, „diese Goliaths, die das kleine Büchlein massa- crirten, hatten vollkommen Recht, wenn sie die romantische Einkleidung des Ganzen für eine Bagatelle erklärten, die für den Autor nur in zweiter In¬ stanz Werth haben konnte, während die polemische Tendenz gegen die Ansprüche des Theologen- und Kircheuthums ihm die Hauptsache war!" — Nach dieser Version hat also das Gericht, wenn es ihn wegen der Lästerungen des bestehenden Theologen- und Kircheuthums verurtheilte, wenigstens in juristischem Sinne Recht gehabt. Das ist eine sonderbare Verwirrung der Gesichtspunkte, die aber für Gutz¬ kow charakteristisch ist. Nicht nur in seiner Wally, sondern in seinen sämmtlichen poetischen Werken, vom ersten bis zum letzten, ist neben der künstlerischen Tendenz, deren Wesen doch darin besteht, daß sie für die Ewigkeit schaffen will, die jour¬ nalistische Tendenz gegangen. Bewußt oder unbewußt, hat er Jahr für Jahr auf die herrschenden Stimmungen und Leidenschaften der Menge gelauscht, und diesen entweder geschmeichelt, oder auch gegen sie polemisirt. Wir wollen dieses Bestreben an sich nicht tadeln. Zwar ist eine künstlerische Vollendung unmöglich, wenn der Dichter vou der Tagesstimmung abhängig ist, allein jene andere Seite des Schaffens hat auch ihre vollkommene Berechtigung, und wer sür diese kriti¬ sche Thätigkeit die halb oder ganz poetische Form vorzieht, wird darau vollkommen Recht thun, wenn er nur über seinen Zweck im Klaren ist. Auch Voltaire, Rousseau u. s. w. haben zum Theil ihre Polemik gegen die herrschenden Ansichten in novellistische Form gekleidet. Aber diese Männer handelten im vollem Glauben, in einer energischen Begeisterung sür ihre Idee, die darum nicht weniger intensiv war, weil sie die Form des Hasses, des Spottes und des Hohnes annahm. Sie haben sich durch Bastillen, durch Verfolgungen, Verbannungen, Confiscationen ihrer Bücher u. s. w. nicht einschüchtern lassen. Es war im 18. Jahrhundert Grenzboten. I. -,8L2. 28

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/227>, abgerufen am 22.07.2024.