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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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den Tagen des Königs Herodes, so erzählt die fromme Sage im Ghetto, lebten
in Palästina drei tugendhafte Männer ans dem Geschlechte David's, denen Gott
dnrch ein Traumgesicht die Zukunft offenbarte; um nun ihren Nachkommen den
Anblick der Gräuel zu ersparen, deren Schauplatz Judäa werden sollte, griffen
sie zum Pilgerstabe und verließen gemeinschaftlich, mit Weibern und Kindern das
gelobte Land. Den heiligen drei Königen diente ein einzelner Stern am Himmel
als Führer; ihnen schwebte das Bild des vielarmigen Leuchters im Tempel zu
Jerusalem mit brennenden Lichtern voraus. So kamen sie immer weiter uach
Westen. Während der langen Wanderschaft aber hörten sie nicht auf, deu
Herrn zu preisen, indem sie eifrig Talmud studirten, und dieses rettete sie
ans alleu Gefahren; denn wurde die kleine Caravane angefallen, so huben
sämmtliche Mitglieder mit jeuer grellen Pautomimik, die zur Lectüre des
Talmud wesentlich ist, mit Händeklatschen, Leibschütteln und lautem Geschrei zu
disputiren an; davor erschraken die reißenden Thiere und die wilden Heiden und
ergriffen sogleich die Flucht. Einmal jedoch verletzten sie den Sabbath, denn
schon glänzte der erste Stern des Freitagabends am Himmel, als ein Knabe
uuter ihnen ein Bäumchen im Walde brach, um sich einen Stecken zu schneiden.
Augenblicklich erlosch das Bild des brennenden Leuchters, die Caravane geriech
in Verwirrung, verirrte und trennte sich. So geschah es, daß ein Theil der
Pilger bis nach Toledo in Spanien, ein anderer nach Worms gerieth und ein
dritter am rechten Ufer der Moldau sich niederließ, bevor Deutsche oder Slaven
den Boden Böhmens betreten hatten. Diese Familie vermehrte sich, in Folge
ihrer Frömmigkeit, so rasch, daß es schon nach einem Menschenalter in Prag
mehrere Synagogen gab. -- Die "Altnenschnl" gilt für die allererste Prager
Synagoge. Gewiß ist, daß sie viele Jahrhunderte lang verschüttet war und erst
zur Zeit Wallenstein's wieder entdeckt und ausgegraben wurde. Eine Stein¬
treppe sührt wie in eine Gruft abwärts zum Eingang der Altneuschul, deren
Inneres in altpalästinischem Stil gebant ist. Säulen, Decke, Gallerten und
Mauern siud kohlschwarz. Auch dies hat keine gewöhnliche Bedeutung; denn
das erste Gotteshaus der Juden in Prag ist bis ans diesen Tag eine Stätte der
Wunder geblieben und gab in den ersten Zeiten den Ansiedlern regelmäßig Kunde
von den Schicksalen des Mutterlandes. Denn damals, als Titus gegen die
Stadt David's seine Legionen führte, begannen, wie die alte Sage weiter meldet,
die Säulen der Altneuschul zu zittern, die Thüren der Bundeslade flogen mit
einem Klageton auf und voll selbst entrollte sich das heilige Pergament, ans dem
die Bücher Mosis geschrieben stehen, bis die Stelle sichtbar wurde, welche das
Capitel vom Segen und vom Fluch enthält. Da entstand großes Jammern und
Weinen unter Greisen und Kindern; die Jngend dagegen rüstete sich mit Wehr
und Waffen und zog, von einem jungen kriegerischen Rabbi angeführt, zum
Entsatz der heiligen Stadt ans. Kaum war das Heer jedoch bis vor die Thore


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den Tagen des Königs Herodes, so erzählt die fromme Sage im Ghetto, lebten
in Palästina drei tugendhafte Männer ans dem Geschlechte David's, denen Gott
dnrch ein Traumgesicht die Zukunft offenbarte; um nun ihren Nachkommen den
Anblick der Gräuel zu ersparen, deren Schauplatz Judäa werden sollte, griffen
sie zum Pilgerstabe und verließen gemeinschaftlich, mit Weibern und Kindern das
gelobte Land. Den heiligen drei Königen diente ein einzelner Stern am Himmel
als Führer; ihnen schwebte das Bild des vielarmigen Leuchters im Tempel zu
Jerusalem mit brennenden Lichtern voraus. So kamen sie immer weiter uach
Westen. Während der langen Wanderschaft aber hörten sie nicht auf, deu
Herrn zu preisen, indem sie eifrig Talmud studirten, und dieses rettete sie
ans alleu Gefahren; denn wurde die kleine Caravane angefallen, so huben
sämmtliche Mitglieder mit jeuer grellen Pautomimik, die zur Lectüre des
Talmud wesentlich ist, mit Händeklatschen, Leibschütteln und lautem Geschrei zu
disputiren an; davor erschraken die reißenden Thiere und die wilden Heiden und
ergriffen sogleich die Flucht. Einmal jedoch verletzten sie den Sabbath, denn
schon glänzte der erste Stern des Freitagabends am Himmel, als ein Knabe
uuter ihnen ein Bäumchen im Walde brach, um sich einen Stecken zu schneiden.
Augenblicklich erlosch das Bild des brennenden Leuchters, die Caravane geriech
in Verwirrung, verirrte und trennte sich. So geschah es, daß ein Theil der
Pilger bis nach Toledo in Spanien, ein anderer nach Worms gerieth und ein
dritter am rechten Ufer der Moldau sich niederließ, bevor Deutsche oder Slaven
den Boden Böhmens betreten hatten. Diese Familie vermehrte sich, in Folge
ihrer Frömmigkeit, so rasch, daß es schon nach einem Menschenalter in Prag
mehrere Synagogen gab. — Die „Altnenschnl" gilt für die allererste Prager
Synagoge. Gewiß ist, daß sie viele Jahrhunderte lang verschüttet war und erst
zur Zeit Wallenstein's wieder entdeckt und ausgegraben wurde. Eine Stein¬
treppe sührt wie in eine Gruft abwärts zum Eingang der Altneuschul, deren
Inneres in altpalästinischem Stil gebant ist. Säulen, Decke, Gallerten und
Mauern siud kohlschwarz. Auch dies hat keine gewöhnliche Bedeutung; denn
das erste Gotteshaus der Juden in Prag ist bis ans diesen Tag eine Stätte der
Wunder geblieben und gab in den ersten Zeiten den Ansiedlern regelmäßig Kunde
von den Schicksalen des Mutterlandes. Denn damals, als Titus gegen die
Stadt David's seine Legionen führte, begannen, wie die alte Sage weiter meldet,
die Säulen der Altneuschul zu zittern, die Thüren der Bundeslade flogen mit
einem Klageton auf und voll selbst entrollte sich das heilige Pergament, ans dem
die Bücher Mosis geschrieben stehen, bis die Stelle sichtbar wurde, welche das
Capitel vom Segen und vom Fluch enthält. Da entstand großes Jammern und
Weinen unter Greisen und Kindern; die Jngend dagegen rüstete sich mit Wehr
und Waffen und zog, von einem jungen kriegerischen Rabbi angeführt, zum
Entsatz der heiligen Stadt ans. Kaum war das Heer jedoch bis vor die Thore


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/71>, abgerufen am 27.06.2024.