Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.Stockwerk pflegt seinen besondern Besitzer zu haben; denn über 7000 Seelen sind Viel von diesem malerischen Wirwarr, viel von diesem phantastischen Farben¬ Das Prager Ghetto ist eine kleine Welt für sich und überreich an Denkmälern Stockwerk pflegt seinen besondern Besitzer zu haben; denn über 7000 Seelen sind Viel von diesem malerischen Wirwarr, viel von diesem phantastischen Farben¬ Das Prager Ghetto ist eine kleine Welt für sich und überreich an Denkmälern <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0070" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/91807"/> <p xml:id="ID_154" prev="#ID_153"> Stockwerk pflegt seinen besondern Besitzer zu haben; denn über 7000 Seelen sind<lb/> im Ghetto zusammengepfercht, und die wenigen Bevorrechteten und Begünstigten,<lb/> die außerhalb desselben wohnen, mußten dafür harte Erpressungen und Anfein¬<lb/> dungen ertragen. Und doch ist das Gebiet dieses „fünften Stadtviertels von<lb/> Prag," wie es von Amtswegen hieß, unglaublich klein. Um so märchenhafter ist<lb/> das Gewühl, Gewirr und Gesumm in diesem Ameisenhaufen und ich wanderte<lb/> in frühern Zeiten hier oft mit derselben Neugier, die ein Kind empfindet, wenn<lb/> es in einem phantastischen Bilderbuch blättert. Ju einer jüdischen Fastnacht<lb/> (Purim), wo Israel seine Errettung aus den Klauen Haman's feiert, ist das<lb/> Ghetto halb eine Feeustadt, halb ein Ziegennerlager; holde Judiths und Esthers,<lb/> die Schiller'sche Liebesgedichte mit dem weinerlichen Accent des Jargons decla-<lb/> miren, rauschen maskirt von Haus zu Hans, während die unverlarvtem Gesichter<lb/> alter Weiber in Goldhauben, lustiger Bettler, der zahlreichen Krüppel und der<lb/> Winkel- oder sogenannten Käserabbiner selbst Masten scheinen. Aus den hell<lb/> erleuchteten Synagogen („Schulen" genannt) stürmt in ungeordneten Dissonanzen<lb/> ein Geschrei zu deu Wolken auf, welches man eben so gut für Jauchzen wie für<lb/> Jammern halten kann; kreischende Mägde rennen gegen einander mit der süßen<lb/> Last der Schaletöpfe, jenem jüdischen Nationalgericht, welches älter ist als die<lb/> ägyptischen Pyramiden, welches die Bibel schon als die „Fleischtöpfe von Mizraim"<lb/> erwähnt und das so heidnisch wohl schmeckt, daß Heinrich Heine sich dadurch mit<lb/> dem Glanben Abraham's aussöhnen ließ. In den Dachkammern thun sich die Kinder<lb/> des Bettlers bei den starkgewürzten Schüsseln gütlich, welche die Wohlthätigkeit<lb/> der Frommen überreichlich geliefert hat; im dritten Stock erzählt der Trödler<lb/> seiner Familie nach Tische von den lustige» alten Zeiten, wo es lebensgefährlich<lb/> war, am Fronleichnamsfest oder am Charfreitag das Weichbild des Ghetto zu<lb/> verlassen, wo aber auch noch ,,Löbele Narr" ans den Hochzeiten Gesichter schnitt,<lb/> auf Judendeutsch Leberreime machte und dazu Synagogeuweisen ans der Geige<lb/> spielte; im ersten Stock endlich strahlen die Gemächer von modischen Glanz und<lb/> duften von Pariser Parfüms, gebildete Herren und Fräulein führen in aller-<lb/> modernsten Tableaus, die ein geistreicher „Schmock" zur Verspottung der eigenen<lb/> Secte ersonnen hat, die Geschichte von Ritter „ Schmock und Dame Schöcke-<lb/> line" ans.</p><lb/> <p xml:id="ID_155"> Viel von diesem malerischen Wirwarr, viel von diesem phantastischen Farben¬<lb/> spiel des Ghettolebens hat die Zeit schon weggefegt und weggewischt, aber noch<lb/> uuterscheioet das Prager Jndenviertel sich von denen ganz Enropa's und die<lb/> Prager Judenschaft zeigt sogar einen wesentlich andern Charakter als die Juden<lb/> in böhmischen Landstädten, während diese wieder mit den Dorfjnden wenig<lb/> gemein haben.</p><lb/> <p xml:id="ID_156" next="#ID_157"> Das Prager Ghetto ist eine kleine Welt für sich und überreich an Denkmälern<lb/> und Sagen. Sein Ursprung verliert sich weit zurück in der Heidenzeit. Lange vor</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0070]
Stockwerk pflegt seinen besondern Besitzer zu haben; denn über 7000 Seelen sind
im Ghetto zusammengepfercht, und die wenigen Bevorrechteten und Begünstigten,
die außerhalb desselben wohnen, mußten dafür harte Erpressungen und Anfein¬
dungen ertragen. Und doch ist das Gebiet dieses „fünften Stadtviertels von
Prag," wie es von Amtswegen hieß, unglaublich klein. Um so märchenhafter ist
das Gewühl, Gewirr und Gesumm in diesem Ameisenhaufen und ich wanderte
in frühern Zeiten hier oft mit derselben Neugier, die ein Kind empfindet, wenn
es in einem phantastischen Bilderbuch blättert. Ju einer jüdischen Fastnacht
(Purim), wo Israel seine Errettung aus den Klauen Haman's feiert, ist das
Ghetto halb eine Feeustadt, halb ein Ziegennerlager; holde Judiths und Esthers,
die Schiller'sche Liebesgedichte mit dem weinerlichen Accent des Jargons decla-
miren, rauschen maskirt von Haus zu Hans, während die unverlarvtem Gesichter
alter Weiber in Goldhauben, lustiger Bettler, der zahlreichen Krüppel und der
Winkel- oder sogenannten Käserabbiner selbst Masten scheinen. Aus den hell
erleuchteten Synagogen („Schulen" genannt) stürmt in ungeordneten Dissonanzen
ein Geschrei zu deu Wolken auf, welches man eben so gut für Jauchzen wie für
Jammern halten kann; kreischende Mägde rennen gegen einander mit der süßen
Last der Schaletöpfe, jenem jüdischen Nationalgericht, welches älter ist als die
ägyptischen Pyramiden, welches die Bibel schon als die „Fleischtöpfe von Mizraim"
erwähnt und das so heidnisch wohl schmeckt, daß Heinrich Heine sich dadurch mit
dem Glanben Abraham's aussöhnen ließ. In den Dachkammern thun sich die Kinder
des Bettlers bei den starkgewürzten Schüsseln gütlich, welche die Wohlthätigkeit
der Frommen überreichlich geliefert hat; im dritten Stock erzählt der Trödler
seiner Familie nach Tische von den lustige» alten Zeiten, wo es lebensgefährlich
war, am Fronleichnamsfest oder am Charfreitag das Weichbild des Ghetto zu
verlassen, wo aber auch noch ,,Löbele Narr" ans den Hochzeiten Gesichter schnitt,
auf Judendeutsch Leberreime machte und dazu Synagogeuweisen ans der Geige
spielte; im ersten Stock endlich strahlen die Gemächer von modischen Glanz und
duften von Pariser Parfüms, gebildete Herren und Fräulein führen in aller-
modernsten Tableaus, die ein geistreicher „Schmock" zur Verspottung der eigenen
Secte ersonnen hat, die Geschichte von Ritter „ Schmock und Dame Schöcke-
line" ans.
Viel von diesem malerischen Wirwarr, viel von diesem phantastischen Farben¬
spiel des Ghettolebens hat die Zeit schon weggefegt und weggewischt, aber noch
uuterscheioet das Prager Jndenviertel sich von denen ganz Enropa's und die
Prager Judenschaft zeigt sogar einen wesentlich andern Charakter als die Juden
in böhmischen Landstädten, während diese wieder mit den Dorfjnden wenig
gemein haben.
Das Prager Ghetto ist eine kleine Welt für sich und überreich an Denkmälern
und Sagen. Sein Ursprung verliert sich weit zurück in der Heidenzeit. Lange vor
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