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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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beleidigte Gerechtigkeit zu sühnen hat. Wenn aber dasjenige, was wir von Ber¬
tram erfahren, nicht ausreicht, seine Selbstvernrtheilung zu begründen, so dient es
auch nicht dazu, ihn ästhetisch zu rechtfertigen; er ist in seinen Selbstvorwürfen,
wie in seiner Großmuth immer ein siecher, leidender Mensch, der uns keinen Au¬
genblick mit sich fortreißt, wie es doch auch der tragische Bösewicht thun soll,
dessen Untergang uns also auch uicht erschüttern kauu. Er wird durch deu Mecha-
nismus des Stücks im strengsten Sinne des Worts, zu einer Sache herabgesetzt.

Auch in diesem Charakter scheint immer die Idee durch, er solle nicht blos
ein krankes Individuum, sondern eine kranke Zeit repräsentiren. Diese Totalität des
unsittlichen Wesens darzustellen, ist Hebbel nicht genug dramatischer Künstler. Ich
habe ihm im Trauerspiel von Sicilieu nachzuweisen gesucht, daß er nur eine ex¬
ceptionelle Anekdote schildert, nicht eine Auflösung des allgemeinen Organismus.
Er meint nun, er hätte doch nicht alle Sicilianer aufführen können. Gewiß nicht!
Aber wie man die Unsittlichkeit generalifirt, kann er aus dem Lear lernen. -- Wenn
er ferner das Unheimliche, schreckhafte, Gespenstische, das in Bertrams Figur
liegt, ans einen großen Kreis ausdehnt, und ihn von Deutschland sagen läßt:
"da gedeiht das Lichtscheue, da schießen Schierling und Bilsenkraut so hoch ans,
daß man sich darunter niederlassen und träumen kauu," so müssen wir doch im
Interesse der Naturwissenschaft wie der Moral dagegen Protestiren. Noch
sind wir nicht das Volk der Leichen und Gespenster, wozu uus Hebbel machen
möchte. --

Nicht viel Besseres kann man von Julia sagen. In dem Urtheil über seine
weiblichen Charaktere scheint sich Hebbel überhaupt am meisten zu täuschen. Er
hat zu sehr seiue Intentionen vor Augen, um sich über die Ausführung ein kla¬
res Bild zu machen , wie seine Selbstkritik der Angiolina beweist. Julia hat in
der Situation und anch in der Charakteralllage mit der Maria Magdalena viel
Aehnlichkeit. So ergibt sie sich ihrem Verführer ebenso wie diese nicht in der
Hitze der Leidenschaft, soudern aus einer raffinirten Reflexion. Als er ihr näm¬
lich Gewalt anthut, überlegt sie, daß ein Hülferuf seinen Tod herbeiführen müßte,
und da sie kein Menschenblut vergießen will, läßt sie ruhig Alles über sich er¬
gehen. Eine sehr übel angebrachte Humanität! Ihre Flucht aus dem elterlichen
Hause ist dann uicht Folge ihrer Liebe, sondern geht theils ans der conventio-
nellen Nothwendigkeit hervor, ihren Zustand dnrch eine Ehe zu legitimiren, theils
-- und dies ist wenigstens ein poetisches Moment -- ans eiuer Gewissensangst.
Sie soll nämlich das Bild der Mutter Gottes als reine Jungfrau bekränzen, und
schellt sich vor diesem Frevel. Daß sie sich aber durch die Scheinehe mit Bertram
aus ihrer Verzweiflung, die doch uicht blos auf dem verletzten Ruf beruhen durste,
souderu ebenso ans dem Glauben an den Verrath ihres Geliebten, selbst da noch
herausziehen läßt, als diese Scheinehe den einzigen berechtigtem Zweck, die Ver-
söhnung mit ihrem Vater, verfehlt, und daß sie am Schluß nach allen Schreck-


beleidigte Gerechtigkeit zu sühnen hat. Wenn aber dasjenige, was wir von Ber¬
tram erfahren, nicht ausreicht, seine Selbstvernrtheilung zu begründen, so dient es
auch nicht dazu, ihn ästhetisch zu rechtfertigen; er ist in seinen Selbstvorwürfen,
wie in seiner Großmuth immer ein siecher, leidender Mensch, der uns keinen Au¬
genblick mit sich fortreißt, wie es doch auch der tragische Bösewicht thun soll,
dessen Untergang uns also auch uicht erschüttern kauu. Er wird durch deu Mecha-
nismus des Stücks im strengsten Sinne des Worts, zu einer Sache herabgesetzt.

Auch in diesem Charakter scheint immer die Idee durch, er solle nicht blos
ein krankes Individuum, sondern eine kranke Zeit repräsentiren. Diese Totalität des
unsittlichen Wesens darzustellen, ist Hebbel nicht genug dramatischer Künstler. Ich
habe ihm im Trauerspiel von Sicilieu nachzuweisen gesucht, daß er nur eine ex¬
ceptionelle Anekdote schildert, nicht eine Auflösung des allgemeinen Organismus.
Er meint nun, er hätte doch nicht alle Sicilianer aufführen können. Gewiß nicht!
Aber wie man die Unsittlichkeit generalifirt, kann er aus dem Lear lernen. — Wenn
er ferner das Unheimliche, schreckhafte, Gespenstische, das in Bertrams Figur
liegt, ans einen großen Kreis ausdehnt, und ihn von Deutschland sagen läßt:
„da gedeiht das Lichtscheue, da schießen Schierling und Bilsenkraut so hoch ans,
daß man sich darunter niederlassen und träumen kauu," so müssen wir doch im
Interesse der Naturwissenschaft wie der Moral dagegen Protestiren. Noch
sind wir nicht das Volk der Leichen und Gespenster, wozu uus Hebbel machen
möchte. —

Nicht viel Besseres kann man von Julia sagen. In dem Urtheil über seine
weiblichen Charaktere scheint sich Hebbel überhaupt am meisten zu täuschen. Er
hat zu sehr seiue Intentionen vor Augen, um sich über die Ausführung ein kla¬
res Bild zu machen , wie seine Selbstkritik der Angiolina beweist. Julia hat in
der Situation und anch in der Charakteralllage mit der Maria Magdalena viel
Aehnlichkeit. So ergibt sie sich ihrem Verführer ebenso wie diese nicht in der
Hitze der Leidenschaft, soudern aus einer raffinirten Reflexion. Als er ihr näm¬
lich Gewalt anthut, überlegt sie, daß ein Hülferuf seinen Tod herbeiführen müßte,
und da sie kein Menschenblut vergießen will, läßt sie ruhig Alles über sich er¬
gehen. Eine sehr übel angebrachte Humanität! Ihre Flucht aus dem elterlichen
Hause ist dann uicht Folge ihrer Liebe, sondern geht theils ans der conventio-
nellen Nothwendigkeit hervor, ihren Zustand dnrch eine Ehe zu legitimiren, theils
— und dies ist wenigstens ein poetisches Moment — ans eiuer Gewissensangst.
Sie soll nämlich das Bild der Mutter Gottes als reine Jungfrau bekränzen, und
schellt sich vor diesem Frevel. Daß sie sich aber durch die Scheinehe mit Bertram
aus ihrer Verzweiflung, die doch uicht blos auf dem verletzten Ruf beruhen durste,
souderu ebenso ans dem Glauben an den Verrath ihres Geliebten, selbst da noch
herausziehen läßt, als diese Scheinehe den einzigen berechtigtem Zweck, die Ver-
söhnung mit ihrem Vater, verfehlt, und daß sie am Schluß nach allen Schreck-


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[0514] beleidigte Gerechtigkeit zu sühnen hat. Wenn aber dasjenige, was wir von Ber¬ tram erfahren, nicht ausreicht, seine Selbstvernrtheilung zu begründen, so dient es auch nicht dazu, ihn ästhetisch zu rechtfertigen; er ist in seinen Selbstvorwürfen, wie in seiner Großmuth immer ein siecher, leidender Mensch, der uns keinen Au¬ genblick mit sich fortreißt, wie es doch auch der tragische Bösewicht thun soll, dessen Untergang uns also auch uicht erschüttern kauu. Er wird durch deu Mecha- nismus des Stücks im strengsten Sinne des Worts, zu einer Sache herabgesetzt. Auch in diesem Charakter scheint immer die Idee durch, er solle nicht blos ein krankes Individuum, sondern eine kranke Zeit repräsentiren. Diese Totalität des unsittlichen Wesens darzustellen, ist Hebbel nicht genug dramatischer Künstler. Ich habe ihm im Trauerspiel von Sicilieu nachzuweisen gesucht, daß er nur eine ex¬ ceptionelle Anekdote schildert, nicht eine Auflösung des allgemeinen Organismus. Er meint nun, er hätte doch nicht alle Sicilianer aufführen können. Gewiß nicht! Aber wie man die Unsittlichkeit generalifirt, kann er aus dem Lear lernen. — Wenn er ferner das Unheimliche, schreckhafte, Gespenstische, das in Bertrams Figur liegt, ans einen großen Kreis ausdehnt, und ihn von Deutschland sagen läßt: „da gedeiht das Lichtscheue, da schießen Schierling und Bilsenkraut so hoch ans, daß man sich darunter niederlassen und träumen kauu," so müssen wir doch im Interesse der Naturwissenschaft wie der Moral dagegen Protestiren. Noch sind wir nicht das Volk der Leichen und Gespenster, wozu uus Hebbel machen möchte. — Nicht viel Besseres kann man von Julia sagen. In dem Urtheil über seine weiblichen Charaktere scheint sich Hebbel überhaupt am meisten zu täuschen. Er hat zu sehr seiue Intentionen vor Augen, um sich über die Ausführung ein kla¬ res Bild zu machen , wie seine Selbstkritik der Angiolina beweist. Julia hat in der Situation und anch in der Charakteralllage mit der Maria Magdalena viel Aehnlichkeit. So ergibt sie sich ihrem Verführer ebenso wie diese nicht in der Hitze der Leidenschaft, soudern aus einer raffinirten Reflexion. Als er ihr näm¬ lich Gewalt anthut, überlegt sie, daß ein Hülferuf seinen Tod herbeiführen müßte, und da sie kein Menschenblut vergießen will, läßt sie ruhig Alles über sich er¬ gehen. Eine sehr übel angebrachte Humanität! Ihre Flucht aus dem elterlichen Hause ist dann uicht Folge ihrer Liebe, sondern geht theils ans der conventio- nellen Nothwendigkeit hervor, ihren Zustand dnrch eine Ehe zu legitimiren, theils — und dies ist wenigstens ein poetisches Moment — ans eiuer Gewissensangst. Sie soll nämlich das Bild der Mutter Gottes als reine Jungfrau bekränzen, und schellt sich vor diesem Frevel. Daß sie sich aber durch die Scheinehe mit Bertram aus ihrer Verzweiflung, die doch uicht blos auf dem verletzten Ruf beruhen durste, souderu ebenso ans dem Glauben an den Verrath ihres Geliebten, selbst da noch herausziehen läßt, als diese Scheinehe den einzigen berechtigtem Zweck, die Ver- söhnung mit ihrem Vater, verfehlt, und daß sie am Schluß nach allen Schreck-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/514>, abgerufen am 27.06.2024.