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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Unendliche fortgehen, bis weiter nichts übrig bleibt, eilf persönliche Ausfälle, mit
denen verschont zu bleiben das Publicum mit Recht verlangen kann.

Wenn ich diesmal von meiner Regel abgebe, so geschieht es nur darum,
weil sich an diesen persönlichen Streit die Beleuchtung einer allgemeinen Frage
knüpft, der Frage über die Stellung der Kritik zum Dichter überhaupt und na¬
mentlich bei der gegenwärtigen Lage unserer Literatur. Ein anderer Grund der
Antwort ist uicht vorhanden. Zwar hat Herr Hebbel ans meiner Kritik nur
diejenigen Stellen angeführt, die für seinen Zweck passen, allein sie reichen doch
aus, um den unbefangenen Leser über die eigentliche Lage des Streits ius Klare
zu setzen, um so mehr, da Herr Hebbel theils durch die Art, wie er von sich
selber spricht, theils durch das angehängte Trauerspiel für meine Behauptungen
Belege liefert, wie ich sie uicht besser hätte wünschen können. Ich habe daher
auch keine Veranlassung, meinerseits in den gereizten Ton dieser Antikritik zu
verfallen

Die Aufgabe des Kritikers scheint mir nicht die zu sein, dem Publicum von
einem Werk, welches dasselbe uicht kennt, ein so vollständiges Bild zu geben, daß
es sich des eignen Urtheils überheben könnte. Sie kann es darum nicht sein,
weil die Forderung eine unmögliche ist. Zunächst'hat die Kritik nur die Ver¬
pflichtung, den Leser, welcher das fragliche Werk kennt, ans diejenigen Umstände
aufmerksam zu macheu, die zur Bildung eines Urtheils die wesentlichen scheinen.
Die Kritik schließt das Urtheil nicht ab, sondern sie regt nur durch die Hervor---
Hebung des Charakteristischen und durch das Verhäliuiß, in welches sie dasselbe
zu ihren Principien stellt, das Nachdenken des Lesers zur freien Thätigkeit an,
und dieses bat daun in letzter Instanz das Urtheil zu fallen. Wenn man daher,
um beiläufig einem Vorwurfe Hebbels zu begegnen, von der Kritik als erste Pflicht
Consequenz fordert, so kann sich diese Consequenz nur auf die Principien beziehen.
In der Anwendung derselben werden verschiedene Gesichtspunkte sich geltend ma¬
chen dürfen; ich werde z. B. von Göthe's Faust mit demselben Recht behaupten
können, das eine Mal, es sei ein herrliches Gedicht, welches jedes empfängliche
Gemüth hinreißen müsse, das andre Mal, es sei ein sehr schlechtes Drama, vor
dessen Nachahmung sich jeder junge Dichter zu hüten habe" Das Eine wider¬
spricht dem Andern keineswegs.

Erst in zweiter Reihe kommt das Bestreben des Kritikers, auch demjenigen
Theil des Publicums, welches durch eigene Augen sich nicht unterrichtet hat, ein
Urtheil zu leihen. Eine gewissenhafte und geistvolle Kritik wird zwar schon ohne



^) Die Beschuldigungen gegen meine böse Absicht widerlegen sich selber. So z. B.
wenn es Herr H. für eine specielle Malice hält, daß ich ihn in einem Augenblicke reccnsire,
wo fünf neue Stücke vou ihm erscheinen. Das ist doch wohl der geeignete Zeitpunkt. --
Uebrigens sind ihm die Kritiken, die ich über seine einzelnen Schauspiele geschrieben habe,
entgangen (1850 Heft 46 und 50).

Unendliche fortgehen, bis weiter nichts übrig bleibt, eilf persönliche Ausfälle, mit
denen verschont zu bleiben das Publicum mit Recht verlangen kann.

Wenn ich diesmal von meiner Regel abgebe, so geschieht es nur darum,
weil sich an diesen persönlichen Streit die Beleuchtung einer allgemeinen Frage
knüpft, der Frage über die Stellung der Kritik zum Dichter überhaupt und na¬
mentlich bei der gegenwärtigen Lage unserer Literatur. Ein anderer Grund der
Antwort ist uicht vorhanden. Zwar hat Herr Hebbel ans meiner Kritik nur
diejenigen Stellen angeführt, die für seinen Zweck passen, allein sie reichen doch
aus, um den unbefangenen Leser über die eigentliche Lage des Streits ius Klare
zu setzen, um so mehr, da Herr Hebbel theils durch die Art, wie er von sich
selber spricht, theils durch das angehängte Trauerspiel für meine Behauptungen
Belege liefert, wie ich sie uicht besser hätte wünschen können. Ich habe daher
auch keine Veranlassung, meinerseits in den gereizten Ton dieser Antikritik zu
verfallen

Die Aufgabe des Kritikers scheint mir nicht die zu sein, dem Publicum von
einem Werk, welches dasselbe uicht kennt, ein so vollständiges Bild zu geben, daß
es sich des eignen Urtheils überheben könnte. Sie kann es darum nicht sein,
weil die Forderung eine unmögliche ist. Zunächst'hat die Kritik nur die Ver¬
pflichtung, den Leser, welcher das fragliche Werk kennt, ans diejenigen Umstände
aufmerksam zu macheu, die zur Bildung eines Urtheils die wesentlichen scheinen.
Die Kritik schließt das Urtheil nicht ab, sondern sie regt nur durch die Hervor---
Hebung des Charakteristischen und durch das Verhäliuiß, in welches sie dasselbe
zu ihren Principien stellt, das Nachdenken des Lesers zur freien Thätigkeit an,
und dieses bat daun in letzter Instanz das Urtheil zu fallen. Wenn man daher,
um beiläufig einem Vorwurfe Hebbels zu begegnen, von der Kritik als erste Pflicht
Consequenz fordert, so kann sich diese Consequenz nur auf die Principien beziehen.
In der Anwendung derselben werden verschiedene Gesichtspunkte sich geltend ma¬
chen dürfen; ich werde z. B. von Göthe's Faust mit demselben Recht behaupten
können, das eine Mal, es sei ein herrliches Gedicht, welches jedes empfängliche
Gemüth hinreißen müsse, das andre Mal, es sei ein sehr schlechtes Drama, vor
dessen Nachahmung sich jeder junge Dichter zu hüten habe» Das Eine wider¬
spricht dem Andern keineswegs.

Erst in zweiter Reihe kommt das Bestreben des Kritikers, auch demjenigen
Theil des Publicums, welches durch eigene Augen sich nicht unterrichtet hat, ein
Urtheil zu leihen. Eine gewissenhafte und geistvolle Kritik wird zwar schon ohne



^) Die Beschuldigungen gegen meine böse Absicht widerlegen sich selber. So z. B.
wenn es Herr H. für eine specielle Malice hält, daß ich ihn in einem Augenblicke reccnsire,
wo fünf neue Stücke vou ihm erscheinen. Das ist doch wohl der geeignete Zeitpunkt. —
Uebrigens sind ihm die Kritiken, die ich über seine einzelnen Schauspiele geschrieben habe,
entgangen (1850 Heft 46 und 50).
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[0506] Unendliche fortgehen, bis weiter nichts übrig bleibt, eilf persönliche Ausfälle, mit denen verschont zu bleiben das Publicum mit Recht verlangen kann. Wenn ich diesmal von meiner Regel abgebe, so geschieht es nur darum, weil sich an diesen persönlichen Streit die Beleuchtung einer allgemeinen Frage knüpft, der Frage über die Stellung der Kritik zum Dichter überhaupt und na¬ mentlich bei der gegenwärtigen Lage unserer Literatur. Ein anderer Grund der Antwort ist uicht vorhanden. Zwar hat Herr Hebbel ans meiner Kritik nur diejenigen Stellen angeführt, die für seinen Zweck passen, allein sie reichen doch aus, um den unbefangenen Leser über die eigentliche Lage des Streits ius Klare zu setzen, um so mehr, da Herr Hebbel theils durch die Art, wie er von sich selber spricht, theils durch das angehängte Trauerspiel für meine Behauptungen Belege liefert, wie ich sie uicht besser hätte wünschen können. Ich habe daher auch keine Veranlassung, meinerseits in den gereizten Ton dieser Antikritik zu verfallen Die Aufgabe des Kritikers scheint mir nicht die zu sein, dem Publicum von einem Werk, welches dasselbe uicht kennt, ein so vollständiges Bild zu geben, daß es sich des eignen Urtheils überheben könnte. Sie kann es darum nicht sein, weil die Forderung eine unmögliche ist. Zunächst'hat die Kritik nur die Ver¬ pflichtung, den Leser, welcher das fragliche Werk kennt, ans diejenigen Umstände aufmerksam zu macheu, die zur Bildung eines Urtheils die wesentlichen scheinen. Die Kritik schließt das Urtheil nicht ab, sondern sie regt nur durch die Hervor--- Hebung des Charakteristischen und durch das Verhäliuiß, in welches sie dasselbe zu ihren Principien stellt, das Nachdenken des Lesers zur freien Thätigkeit an, und dieses bat daun in letzter Instanz das Urtheil zu fallen. Wenn man daher, um beiläufig einem Vorwurfe Hebbels zu begegnen, von der Kritik als erste Pflicht Consequenz fordert, so kann sich diese Consequenz nur auf die Principien beziehen. In der Anwendung derselben werden verschiedene Gesichtspunkte sich geltend ma¬ chen dürfen; ich werde z. B. von Göthe's Faust mit demselben Recht behaupten können, das eine Mal, es sei ein herrliches Gedicht, welches jedes empfängliche Gemüth hinreißen müsse, das andre Mal, es sei ein sehr schlechtes Drama, vor dessen Nachahmung sich jeder junge Dichter zu hüten habe» Das Eine wider¬ spricht dem Andern keineswegs. Erst in zweiter Reihe kommt das Bestreben des Kritikers, auch demjenigen Theil des Publicums, welches durch eigene Augen sich nicht unterrichtet hat, ein Urtheil zu leihen. Eine gewissenhafte und geistvolle Kritik wird zwar schon ohne ^) Die Beschuldigungen gegen meine böse Absicht widerlegen sich selber. So z. B. wenn es Herr H. für eine specielle Malice hält, daß ich ihn in einem Augenblicke reccnsire, wo fünf neue Stücke vou ihm erscheinen. Das ist doch wohl der geeignete Zeitpunkt. — Uebrigens sind ihm die Kritiken, die ich über seine einzelnen Schauspiele geschrieben habe, entgangen (1850 Heft 46 und 50).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/506>, abgerufen am 27.06.2024.