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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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land gibt es nicht ein Dutzend mehr, welche einen correcten Vers machen und
unsere -so poetisch aptirte deutsche Sprache richtig verwenden können. Das scheint
paradox, ist aber ganz natürlich.

Und doch ist der Trieb zu schaffen noch in vielen Seelen lebendig, und auch
die Fähigkeit lyrische Gedichte zu genießen ist in dem letzten Jahr größer gewor¬
den, als sie seit Jahren war. Neue Dichter von aristokratischer und frommer
Tendenz wurden eifrig gekauft und bewundert, und das ist in der Ordnung, da
sie die Stimmung der Gegenwart abspiegeln, und deshalb einem modernen Bedürf¬
niß entsprechen. Einigen Einfluß auf das größere Juteresse des Publicums hat
freilich auch die elegante Ausstattung neuer Gedichtsammlnngen. Es ist eine
wahre Freude, bei ihnen Papier, Druck und Einband anzusehen, den farbigen
Leinwandrock, welcher mit Vergoldungen ganz bedeckt ist. Ein so geschmücktes
Buch ziert jeden Tisch, und hält sich gut in der weißen kleinen Hand seiner
Besitzerin.

Diese melancholischen Betrachtungen sollen die Einleitung zu einer Reihe von
kleinen Kritiken über lyrische Gedichte der letzten Jahre sein. Die Kritiken mögen
für das Publicum ein Urtheil aussprechen, den Dichtern, wo möglich, eine hilf¬
reiche Hand bieten, welche zurückzuweisen ihnen vollkommen freisteht.

Die Gedichte von Jeanne Marie, der beliebten Romanschriftstellerin,
sind von einer verständigen und gebildeten Dame. Sie hat gewiß in der Welt
viel beobachtet und nachgedacht und Einiges selbst erfahren, und weiß mit An¬
stand und Selbstgefühl auch ihre leidenschaftlichen Gefühle vorzutragen. Sie ist
in ihren Gedichten aber mehr scharfsinnig und berechnend, als gemüthreich, ihre
Gedichte sind in der großen Mehrzahl Bilder und Vergleiche, oft sehr fein er¬
funden und ausgeführt, 'die Pointe zuweilen eine große Antithese, z. B. S. 80.
Alles nnr Dn:

oder der Schluß des Gedichtes ist die Erklärung eines Gleichnisses, z. B.
Ein neues Mantellied, die Angenpost; ein zerrissener Mantel am rosti¬
gen Nagel erklärt sich als der Mantel der christlichen Liebe; als dahinfahrende
schwarze Rappen, weiche Tauben, branne Adler, graue Nonnen, bläuliche Libel¬
len erscheinen die Strahlen deö Menschenauges, welche die Augeupost bilden ze. --
Wo sie einfach erzählt, ist ihre Kunst am liebenswürdigsten, nur daß die lebhaften
sehr detaillirten Anschauungen, welche in ihrer Seele offenbar schnell aufschießen,
wegen Mangel an Gewandtheit in Gebrauch der poetischen Sprache oft verküm¬
mert und aus Maugel an logischer Schärfe selbst verkehrt erscheinen.

Da die Dichterin mehr besitzt, als viele ihrer modernen Collegen, nämlich die


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land gibt es nicht ein Dutzend mehr, welche einen correcten Vers machen und
unsere -so poetisch aptirte deutsche Sprache richtig verwenden können. Das scheint
paradox, ist aber ganz natürlich.

Und doch ist der Trieb zu schaffen noch in vielen Seelen lebendig, und auch
die Fähigkeit lyrische Gedichte zu genießen ist in dem letzten Jahr größer gewor¬
den, als sie seit Jahren war. Neue Dichter von aristokratischer und frommer
Tendenz wurden eifrig gekauft und bewundert, und das ist in der Ordnung, da
sie die Stimmung der Gegenwart abspiegeln, und deshalb einem modernen Bedürf¬
niß entsprechen. Einigen Einfluß auf das größere Juteresse des Publicums hat
freilich auch die elegante Ausstattung neuer Gedichtsammlnngen. Es ist eine
wahre Freude, bei ihnen Papier, Druck und Einband anzusehen, den farbigen
Leinwandrock, welcher mit Vergoldungen ganz bedeckt ist. Ein so geschmücktes
Buch ziert jeden Tisch, und hält sich gut in der weißen kleinen Hand seiner
Besitzerin.

Diese melancholischen Betrachtungen sollen die Einleitung zu einer Reihe von
kleinen Kritiken über lyrische Gedichte der letzten Jahre sein. Die Kritiken mögen
für das Publicum ein Urtheil aussprechen, den Dichtern, wo möglich, eine hilf¬
reiche Hand bieten, welche zurückzuweisen ihnen vollkommen freisteht.

Die Gedichte von Jeanne Marie, der beliebten Romanschriftstellerin,
sind von einer verständigen und gebildeten Dame. Sie hat gewiß in der Welt
viel beobachtet und nachgedacht und Einiges selbst erfahren, und weiß mit An¬
stand und Selbstgefühl auch ihre leidenschaftlichen Gefühle vorzutragen. Sie ist
in ihren Gedichten aber mehr scharfsinnig und berechnend, als gemüthreich, ihre
Gedichte sind in der großen Mehrzahl Bilder und Vergleiche, oft sehr fein er¬
funden und ausgeführt, 'die Pointe zuweilen eine große Antithese, z. B. S. 80.
Alles nnr Dn:

oder der Schluß des Gedichtes ist die Erklärung eines Gleichnisses, z. B.
Ein neues Mantellied, die Angenpost; ein zerrissener Mantel am rosti¬
gen Nagel erklärt sich als der Mantel der christlichen Liebe; als dahinfahrende
schwarze Rappen, weiche Tauben, branne Adler, graue Nonnen, bläuliche Libel¬
len erscheinen die Strahlen deö Menschenauges, welche die Augeupost bilden ze. —
Wo sie einfach erzählt, ist ihre Kunst am liebenswürdigsten, nur daß die lebhaften
sehr detaillirten Anschauungen, welche in ihrer Seele offenbar schnell aufschießen,
wegen Mangel an Gewandtheit in Gebrauch der poetischen Sprache oft verküm¬
mert und aus Maugel an logischer Schärfe selbst verkehrt erscheinen.

Da die Dichterin mehr besitzt, als viele ihrer modernen Collegen, nämlich die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/47>, abgerufen am 04.07.2024.