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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Orthodoxie eine ebenso entschiedene Abneigung gegen den politischen Despotismus
verbinden. Man pflegt allzuleicht die Bekenner des alten Christenthums mit den
Vertheidigern des conservativen Princips in politischen Dingen zu identificiren.
Im Allgemeinen ist es wohl der Fall, und wir werden später ans den Grund
dieser Erscheinung kommen; aber es gibt doch sehr bedeutende Ausnahmen, und
es wird dies überall der Fall sein, wo die bestimmte Kirche sich nicht der Herr¬
schaft über den Staat bemächtigt hat. In solchem Falle werden wir auch bei
den Katholiken eine republikanische Gesinnung vorfinden. Vou allen Kirchen
Europa's sind es aber zwei, die nicht ans Opposition gegen das herrschende
Staatssystem, sondern durch den Organismus ihrer eignen Verfassung zu re¬
publikanischen Gesinnungen getrieben werdeu, die calviuistische Kirche in der
Schweiz und die presbyterianische in Schottland. Beide haben sich in religiösen
und auch in politischen Dingen eine ziemliche Autonomie bewahrt, und zwar eine
Autonomie, die von unten ausging, von den Gemeinden" Die schottische Kirche
hat seit dem Jahre 1843 vorzüglich durch die Bemühungen des Dr. Chalmers
ihren alten Kampf gegen die Uebergriffe des Staats wieder aufgenommen,
namentlich in Beziehung auf die freie Besetzung der Pfarrerstellen und auf die
Exemtion der kirchlichen Streitfragen von den bürgerlichen Gerichten, und Herr
AubicM, der Genfer Pfarrer, hat bei einem längern Aufenthalt in Schottland
die Verbindung der beideu Kirchen, die sich in ihrem Wesen sehr nahe stehen,
anch äußerlich fester zu knüpfen gesucht. Es gibt in dem vorliegende Buch
neben deu unmittelbaren Anschauungen, die er aus Schottland mitbringt, und
einer theologischen Einleitung, für die es, wie in den meisten derartigen Fällen,
schwer sein würde, einen Leitfaden zu finden, eine Geschichte der freien schottischen
Kirche, die zwar vom Standpunkt einer Partei, aber einer berechtigten Partei
geschrieben ist, und die wir denjenigen, welche sich für religiöse Monographien
interessiren, empfehlen können.

Was uns an dem Buche interessirt, ist weniger der historische Inhalt, als
das Princip, welches sich an denselben knüpft. Bei der oft genug, aber niemals
sehr gründlich' erörterten Frage, ob der Staat die Kirche emancipiren solle,
kommt es aber vor Allem darauf an, sich über die beiden Begriffe klar zu machen,
an die es sich handelt, und sich nach der ihnen entsprechenden Wirklichkeit um¬
zusehen.

Der preußische Cultusminister, Herr vou Raumer, hat das von den Libe¬
ralen angeregte Bedenken, ob die protestantische Kirche überhaupt existire, durch
die Versicherung erledigt, daß sie sich nicht allein der Existenz, sondern auch
einer bestimmten, rechtlich begründeten und factisch bestehenden Verfassung erfreue.
Indessen siud durch diese Versicherung, deren relative Wahrheit noch Niemand in
Zweifel gestellt hat, uoch keineswegs alle Bedeuten erledigt. Es kommt nämlich
darauf an, ob die uuter dem Collectivbegriff "protestantisch" zusammengefaßte


Orthodoxie eine ebenso entschiedene Abneigung gegen den politischen Despotismus
verbinden. Man pflegt allzuleicht die Bekenner des alten Christenthums mit den
Vertheidigern des conservativen Princips in politischen Dingen zu identificiren.
Im Allgemeinen ist es wohl der Fall, und wir werden später ans den Grund
dieser Erscheinung kommen; aber es gibt doch sehr bedeutende Ausnahmen, und
es wird dies überall der Fall sein, wo die bestimmte Kirche sich nicht der Herr¬
schaft über den Staat bemächtigt hat. In solchem Falle werden wir auch bei
den Katholiken eine republikanische Gesinnung vorfinden. Vou allen Kirchen
Europa's sind es aber zwei, die nicht ans Opposition gegen das herrschende
Staatssystem, sondern durch den Organismus ihrer eignen Verfassung zu re¬
publikanischen Gesinnungen getrieben werdeu, die calviuistische Kirche in der
Schweiz und die presbyterianische in Schottland. Beide haben sich in religiösen
und auch in politischen Dingen eine ziemliche Autonomie bewahrt, und zwar eine
Autonomie, die von unten ausging, von den Gemeinden» Die schottische Kirche
hat seit dem Jahre 1843 vorzüglich durch die Bemühungen des Dr. Chalmers
ihren alten Kampf gegen die Uebergriffe des Staats wieder aufgenommen,
namentlich in Beziehung auf die freie Besetzung der Pfarrerstellen und auf die
Exemtion der kirchlichen Streitfragen von den bürgerlichen Gerichten, und Herr
AubicM, der Genfer Pfarrer, hat bei einem längern Aufenthalt in Schottland
die Verbindung der beideu Kirchen, die sich in ihrem Wesen sehr nahe stehen,
anch äußerlich fester zu knüpfen gesucht. Es gibt in dem vorliegende Buch
neben deu unmittelbaren Anschauungen, die er aus Schottland mitbringt, und
einer theologischen Einleitung, für die es, wie in den meisten derartigen Fällen,
schwer sein würde, einen Leitfaden zu finden, eine Geschichte der freien schottischen
Kirche, die zwar vom Standpunkt einer Partei, aber einer berechtigten Partei
geschrieben ist, und die wir denjenigen, welche sich für religiöse Monographien
interessiren, empfehlen können.

Was uns an dem Buche interessirt, ist weniger der historische Inhalt, als
das Princip, welches sich an denselben knüpft. Bei der oft genug, aber niemals
sehr gründlich' erörterten Frage, ob der Staat die Kirche emancipiren solle,
kommt es aber vor Allem darauf an, sich über die beiden Begriffe klar zu machen,
an die es sich handelt, und sich nach der ihnen entsprechenden Wirklichkeit um¬
zusehen.

Der preußische Cultusminister, Herr vou Raumer, hat das von den Libe¬
ralen angeregte Bedenken, ob die protestantische Kirche überhaupt existire, durch
die Versicherung erledigt, daß sie sich nicht allein der Existenz, sondern auch
einer bestimmten, rechtlich begründeten und factisch bestehenden Verfassung erfreue.
Indessen siud durch diese Versicherung, deren relative Wahrheit noch Niemand in
Zweifel gestellt hat, uoch keineswegs alle Bedeuten erledigt. Es kommt nämlich
darauf an, ob die uuter dem Collectivbegriff „protestantisch" zusammengefaßte


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[0465] Orthodoxie eine ebenso entschiedene Abneigung gegen den politischen Despotismus verbinden. Man pflegt allzuleicht die Bekenner des alten Christenthums mit den Vertheidigern des conservativen Princips in politischen Dingen zu identificiren. Im Allgemeinen ist es wohl der Fall, und wir werden später ans den Grund dieser Erscheinung kommen; aber es gibt doch sehr bedeutende Ausnahmen, und es wird dies überall der Fall sein, wo die bestimmte Kirche sich nicht der Herr¬ schaft über den Staat bemächtigt hat. In solchem Falle werden wir auch bei den Katholiken eine republikanische Gesinnung vorfinden. Vou allen Kirchen Europa's sind es aber zwei, die nicht ans Opposition gegen das herrschende Staatssystem, sondern durch den Organismus ihrer eignen Verfassung zu re¬ publikanischen Gesinnungen getrieben werdeu, die calviuistische Kirche in der Schweiz und die presbyterianische in Schottland. Beide haben sich in religiösen und auch in politischen Dingen eine ziemliche Autonomie bewahrt, und zwar eine Autonomie, die von unten ausging, von den Gemeinden» Die schottische Kirche hat seit dem Jahre 1843 vorzüglich durch die Bemühungen des Dr. Chalmers ihren alten Kampf gegen die Uebergriffe des Staats wieder aufgenommen, namentlich in Beziehung auf die freie Besetzung der Pfarrerstellen und auf die Exemtion der kirchlichen Streitfragen von den bürgerlichen Gerichten, und Herr AubicM, der Genfer Pfarrer, hat bei einem längern Aufenthalt in Schottland die Verbindung der beideu Kirchen, die sich in ihrem Wesen sehr nahe stehen, anch äußerlich fester zu knüpfen gesucht. Es gibt in dem vorliegende Buch neben deu unmittelbaren Anschauungen, die er aus Schottland mitbringt, und einer theologischen Einleitung, für die es, wie in den meisten derartigen Fällen, schwer sein würde, einen Leitfaden zu finden, eine Geschichte der freien schottischen Kirche, die zwar vom Standpunkt einer Partei, aber einer berechtigten Partei geschrieben ist, und die wir denjenigen, welche sich für religiöse Monographien interessiren, empfehlen können. Was uns an dem Buche interessirt, ist weniger der historische Inhalt, als das Princip, welches sich an denselben knüpft. Bei der oft genug, aber niemals sehr gründlich' erörterten Frage, ob der Staat die Kirche emancipiren solle, kommt es aber vor Allem darauf an, sich über die beiden Begriffe klar zu machen, an die es sich handelt, und sich nach der ihnen entsprechenden Wirklichkeit um¬ zusehen. Der preußische Cultusminister, Herr vou Raumer, hat das von den Libe¬ ralen angeregte Bedenken, ob die protestantische Kirche überhaupt existire, durch die Versicherung erledigt, daß sie sich nicht allein der Existenz, sondern auch einer bestimmten, rechtlich begründeten und factisch bestehenden Verfassung erfreue. Indessen siud durch diese Versicherung, deren relative Wahrheit noch Niemand in Zweifel gestellt hat, uoch keineswegs alle Bedeuten erledigt. Es kommt nämlich darauf an, ob die uuter dem Collectivbegriff „protestantisch" zusammengefaßte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/465>, abgerufen am 28.06.2024.