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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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sehr ernst mit dem Gewissen zu nehmen, durch trügerische Sophismen, durch psy¬
chologische Motive, die uicht zur Sache gehören, oder, geradezu durch verruchte
Principien das Verbrechen beschönigt wird. Das ist hier in einem Maße ge¬
schehen, wie es ein Deutscher wenigstens selten gewagt hat. Es ist nämlich der
Grundsatz ausgeführt und als ein Evangelium festgestellt, daß an das Genie
ein anderer sittlicher Maßstab zu legen sei, als an andere Menschen. Man wende
mir nicht ein, daß Napoleon, Göthe, Alexander der Große u. s. w. sich in ihrem
Privatleben Manches erlaubt haben, was keineswegs zu billigen ist, und woran
doch Niemand denkt, wenn er ein Urtheil über diese Männer fällt. Es wäre
allerdings einfältig, wenn man zur Charakteristik dieser Männer, für die so viel
andere, bedeutendere Momente vorliegen, Anekdoten herbeiziehen wollte, die im
Verhältniß zu jenen als Nebensachen zu betrachten sind. Ob Göthe an
Friederike, an Lili n. s. w. schlecht gehandelt hat oder nicht, das thut seinem
Dichterrnhm keinen Eintrag, aber wenn wir den bestimmten einzelnen Fall nehmen
und von demselben einen sittlichen Eindruck empfangen wollen, so werden Napo¬
leon, Göthe und Alexander der Große, obgleich sie Genies sind, sich demselben
Maß bequemen müssen, dem alle Sterblichen unterworfen sind. Das Drama ist
aber in der Lage, sich mit seinem sittlichen Eindruck lediglich ans diejenige Bege¬
benheit beziehen zu. müssen, welche es darstellt. Wenn sich in dieser Begebenheit
Napoleon, Göthe oder Alexander der Große als ein Lump benimmt, so wird es
ihm nichts nützen, daß man sich außerdem darau erinnert, er habe die Welt er¬
obert oder Wilhelm Meister geschrieben. Im Drama fehlt uns der Maßstab,
diese Momente mit einander in Vergleich zu stellen; wir können weder die Welt-
erobernng noch die Conception des Wilhelm Meister mit ansehen; was uns da¬
von gegeben wird, ist eitel Spielerei und Klingklang, und wenn trotzdem die Per¬
sonen, die uns den griechischen Chor versinnlichen sollen, fortwährend wiederholen,
einem Welteroberer oder Dichter ist Alles erlaubt, so ist das ein. Symptom von
einer so grenzenlosen sittlichen Verwahrlosung, einer an Wahnsinn streifenden Un¬
klarheit des Gefühls, daß die Kritik nicht ernst genng dagegen in die Schranken
treten kann. Es kommt noch dazu, daß der Dichter mit seiner Auffassung nicht
allein steht. Es ist dieser Grundsatz in Deutschland von den ersten Zeiten des
abstracten Literatenthums an mit so viel Ausdauer und Selbstgefühl gepredigt
worden, daß Niemand leugnen kann, diese eitle Schönthnerei mit dem Spiegel
seiner Größe, diese Aushöhlung des Charakters und der männlichen Tüchtigkeit
sei ein Uebel, das tiefer wurzele, als in den Verirrungen einer Individualität.

Ein ganz ähnliches Verhältniß, wie es Mosenthal behandelt, ist schon früher
von zwei großen Dichtern dargestellt worden, von Göthe in .seinen "Wahlver¬
wandtschaften", von Jean Paul in seinem "Siebenkäs." Während das erste
Werk das Problem, welches es nicht aufzulösen im Stande ist, wenigstens mit
dem gebührenden Ernst nach allen Seiten hin durchforscht, nimmt Jean Paul.mit


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sehr ernst mit dem Gewissen zu nehmen, durch trügerische Sophismen, durch psy¬
chologische Motive, die uicht zur Sache gehören, oder, geradezu durch verruchte
Principien das Verbrechen beschönigt wird. Das ist hier in einem Maße ge¬
schehen, wie es ein Deutscher wenigstens selten gewagt hat. Es ist nämlich der
Grundsatz ausgeführt und als ein Evangelium festgestellt, daß an das Genie
ein anderer sittlicher Maßstab zu legen sei, als an andere Menschen. Man wende
mir nicht ein, daß Napoleon, Göthe, Alexander der Große u. s. w. sich in ihrem
Privatleben Manches erlaubt haben, was keineswegs zu billigen ist, und woran
doch Niemand denkt, wenn er ein Urtheil über diese Männer fällt. Es wäre
allerdings einfältig, wenn man zur Charakteristik dieser Männer, für die so viel
andere, bedeutendere Momente vorliegen, Anekdoten herbeiziehen wollte, die im
Verhältniß zu jenen als Nebensachen zu betrachten sind. Ob Göthe an
Friederike, an Lili n. s. w. schlecht gehandelt hat oder nicht, das thut seinem
Dichterrnhm keinen Eintrag, aber wenn wir den bestimmten einzelnen Fall nehmen
und von demselben einen sittlichen Eindruck empfangen wollen, so werden Napo¬
leon, Göthe und Alexander der Große, obgleich sie Genies sind, sich demselben
Maß bequemen müssen, dem alle Sterblichen unterworfen sind. Das Drama ist
aber in der Lage, sich mit seinem sittlichen Eindruck lediglich ans diejenige Bege¬
benheit beziehen zu. müssen, welche es darstellt. Wenn sich in dieser Begebenheit
Napoleon, Göthe oder Alexander der Große als ein Lump benimmt, so wird es
ihm nichts nützen, daß man sich außerdem darau erinnert, er habe die Welt er¬
obert oder Wilhelm Meister geschrieben. Im Drama fehlt uns der Maßstab,
diese Momente mit einander in Vergleich zu stellen; wir können weder die Welt-
erobernng noch die Conception des Wilhelm Meister mit ansehen; was uns da¬
von gegeben wird, ist eitel Spielerei und Klingklang, und wenn trotzdem die Per¬
sonen, die uns den griechischen Chor versinnlichen sollen, fortwährend wiederholen,
einem Welteroberer oder Dichter ist Alles erlaubt, so ist das ein. Symptom von
einer so grenzenlosen sittlichen Verwahrlosung, einer an Wahnsinn streifenden Un¬
klarheit des Gefühls, daß die Kritik nicht ernst genng dagegen in die Schranken
treten kann. Es kommt noch dazu, daß der Dichter mit seiner Auffassung nicht
allein steht. Es ist dieser Grundsatz in Deutschland von den ersten Zeiten des
abstracten Literatenthums an mit so viel Ausdauer und Selbstgefühl gepredigt
worden, daß Niemand leugnen kann, diese eitle Schönthnerei mit dem Spiegel
seiner Größe, diese Aushöhlung des Charakters und der männlichen Tüchtigkeit
sei ein Uebel, das tiefer wurzele, als in den Verirrungen einer Individualität.

Ein ganz ähnliches Verhältniß, wie es Mosenthal behandelt, ist schon früher
von zwei großen Dichtern dargestellt worden, von Göthe in .seinen „Wahlver¬
wandtschaften", von Jean Paul in seinem „Siebenkäs." Während das erste
Werk das Problem, welches es nicht aufzulösen im Stande ist, wenigstens mit
dem gebührenden Ernst nach allen Seiten hin durchforscht, nimmt Jean Paul.mit


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[0455] sehr ernst mit dem Gewissen zu nehmen, durch trügerische Sophismen, durch psy¬ chologische Motive, die uicht zur Sache gehören, oder, geradezu durch verruchte Principien das Verbrechen beschönigt wird. Das ist hier in einem Maße ge¬ schehen, wie es ein Deutscher wenigstens selten gewagt hat. Es ist nämlich der Grundsatz ausgeführt und als ein Evangelium festgestellt, daß an das Genie ein anderer sittlicher Maßstab zu legen sei, als an andere Menschen. Man wende mir nicht ein, daß Napoleon, Göthe, Alexander der Große u. s. w. sich in ihrem Privatleben Manches erlaubt haben, was keineswegs zu billigen ist, und woran doch Niemand denkt, wenn er ein Urtheil über diese Männer fällt. Es wäre allerdings einfältig, wenn man zur Charakteristik dieser Männer, für die so viel andere, bedeutendere Momente vorliegen, Anekdoten herbeiziehen wollte, die im Verhältniß zu jenen als Nebensachen zu betrachten sind. Ob Göthe an Friederike, an Lili n. s. w. schlecht gehandelt hat oder nicht, das thut seinem Dichterrnhm keinen Eintrag, aber wenn wir den bestimmten einzelnen Fall nehmen und von demselben einen sittlichen Eindruck empfangen wollen, so werden Napo¬ leon, Göthe und Alexander der Große, obgleich sie Genies sind, sich demselben Maß bequemen müssen, dem alle Sterblichen unterworfen sind. Das Drama ist aber in der Lage, sich mit seinem sittlichen Eindruck lediglich ans diejenige Bege¬ benheit beziehen zu. müssen, welche es darstellt. Wenn sich in dieser Begebenheit Napoleon, Göthe oder Alexander der Große als ein Lump benimmt, so wird es ihm nichts nützen, daß man sich außerdem darau erinnert, er habe die Welt er¬ obert oder Wilhelm Meister geschrieben. Im Drama fehlt uns der Maßstab, diese Momente mit einander in Vergleich zu stellen; wir können weder die Welt- erobernng noch die Conception des Wilhelm Meister mit ansehen; was uns da¬ von gegeben wird, ist eitel Spielerei und Klingklang, und wenn trotzdem die Per¬ sonen, die uns den griechischen Chor versinnlichen sollen, fortwährend wiederholen, einem Welteroberer oder Dichter ist Alles erlaubt, so ist das ein. Symptom von einer so grenzenlosen sittlichen Verwahrlosung, einer an Wahnsinn streifenden Un¬ klarheit des Gefühls, daß die Kritik nicht ernst genng dagegen in die Schranken treten kann. Es kommt noch dazu, daß der Dichter mit seiner Auffassung nicht allein steht. Es ist dieser Grundsatz in Deutschland von den ersten Zeiten des abstracten Literatenthums an mit so viel Ausdauer und Selbstgefühl gepredigt worden, daß Niemand leugnen kann, diese eitle Schönthnerei mit dem Spiegel seiner Größe, diese Aushöhlung des Charakters und der männlichen Tüchtigkeit sei ein Uebel, das tiefer wurzele, als in den Verirrungen einer Individualität. Ein ganz ähnliches Verhältniß, wie es Mosenthal behandelt, ist schon früher von zwei großen Dichtern dargestellt worden, von Göthe in .seinen „Wahlver¬ wandtschaften", von Jean Paul in seinem „Siebenkäs." Während das erste Werk das Problem, welches es nicht aufzulösen im Stande ist, wenigstens mit dem gebührenden Ernst nach allen Seiten hin durchforscht, nimmt Jean Paul.mit 56*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/455>, abgerufen am 28.06.2024.