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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Versuchen die nur dem Roman ungehörige Sprache und Darstellungsweise zu
verlassen. Walter Scott und Bulwer sind Beispiele für diese Behauptung. Auch
Byron möchte einen Beleg dafür geben. Georges Saud selbst hat sich schou
in ihrer frühern Zeit mit Aehnlichem versucht; sie hat zwei Sprüchwörter ge¬
schrieben, wie der moderne Ausdruck für das freie, regellose Drama ist, Gabriel
und die Missisippier. Das erste enthält die psychologischen Wunderlichkeiten
eines Weibes, das als Manu erzogen ist, das andere ein allerliebst durchge¬
führtes, aber unbedeutendes Genrebild aus der Gesellschaft des vorigen Jahr¬
hunderts. Ich glaube aus allen diesen vier Stücken schließen zu können, daß
Georges Sand ihren Beruf verkeimen würde, wenn sie ihre Thätigkeit nicht
wieder der frühern Form zuwendete, obgleich ich weit entfernt bin, diese Be¬
hauptung als eine apodiktische Gewißheit darzustellen.

Es bleibt mir noch übrig, das Gesammturtheil auszusprechen, welches sich
als Schluß der gauzen bisherigen Betrachtung ergeben muß. Der Roman ge¬
hört, nach meiner Ansicht, wegen seiner laxen Form und der Willkür, die er
verstattet, nicht zu denjenigen Gattungen der Kunst, die als classisch auf die Nach¬
welt übergehen werden. Die gelesensten Schriftsteller der neuern Zeit siud durch
den größern Reiz der Neuheit, den spätere darboten, in ihrer Ausbreitung wenig¬
stens beeinträchtigt worden. Selbst Walter Scott ist es so gegangen. Zudem
hat Georges Sand in den meisten ihrer Schriften mit Problemen zu thun gehabt,
deren Berechtigung eine spätere Zeit nicht mehr begreifen wird; es kann also
geschehen, daß man ihr künftig nur noch eine literarhistorische Bedeutung
zugesteht. Aber diese wird sie behalten. Sie wird anch spätern Jahrhunderten
als das bedeutendste Bild des krankhaften, aber intensiven Strebens erscheinen,
welches sich unserer Generation bemächtigt hat. Wenn man längst dahinterge¬
kommen sein wird, daß die gefeierten Werke eines Victor Hugo, Eugen Sue,
Larmartine, Alfred de Musset u. s. w. nur als die wüsten Auswüchse einer un¬
bändigen, regellosen Phantasie und einer verschrobenen Reflexion zu betrachten
sind; wenn man dasselbe Urtheil über die Poesien des Herrn von Chateaubriand
ausgesprochen haben wird, deren Werth man eigentlich schon jetzt nur auf Treu
und Glauben annimmt, da wenig Menschen sie gelesen haben, so wird man doch
noch die Poesie in den Dichtungen Georges Sand's, trotz aller Verirrungen,
anerkennen; man wird sogar, indem man die Periode des sentimentalen Empfindens
und Denkens in einem weitern Zeitumfang zusammenfaßt, indem man die Werke
von Richardson, Rousseau (natürlich nur diejenigen Werke, die hierher gehören),
der Fran v. Stael u. s. w. mit darin begreift, vor allen diesen den bessern
I. S. Werken unserer Schriftstellerin den Preis zugestehen.




Versuchen die nur dem Roman ungehörige Sprache und Darstellungsweise zu
verlassen. Walter Scott und Bulwer sind Beispiele für diese Behauptung. Auch
Byron möchte einen Beleg dafür geben. Georges Saud selbst hat sich schou
in ihrer frühern Zeit mit Aehnlichem versucht; sie hat zwei Sprüchwörter ge¬
schrieben, wie der moderne Ausdruck für das freie, regellose Drama ist, Gabriel
und die Missisippier. Das erste enthält die psychologischen Wunderlichkeiten
eines Weibes, das als Manu erzogen ist, das andere ein allerliebst durchge¬
führtes, aber unbedeutendes Genrebild aus der Gesellschaft des vorigen Jahr¬
hunderts. Ich glaube aus allen diesen vier Stücken schließen zu können, daß
Georges Sand ihren Beruf verkeimen würde, wenn sie ihre Thätigkeit nicht
wieder der frühern Form zuwendete, obgleich ich weit entfernt bin, diese Be¬
hauptung als eine apodiktische Gewißheit darzustellen.

Es bleibt mir noch übrig, das Gesammturtheil auszusprechen, welches sich
als Schluß der gauzen bisherigen Betrachtung ergeben muß. Der Roman ge¬
hört, nach meiner Ansicht, wegen seiner laxen Form und der Willkür, die er
verstattet, nicht zu denjenigen Gattungen der Kunst, die als classisch auf die Nach¬
welt übergehen werden. Die gelesensten Schriftsteller der neuern Zeit siud durch
den größern Reiz der Neuheit, den spätere darboten, in ihrer Ausbreitung wenig¬
stens beeinträchtigt worden. Selbst Walter Scott ist es so gegangen. Zudem
hat Georges Sand in den meisten ihrer Schriften mit Problemen zu thun gehabt,
deren Berechtigung eine spätere Zeit nicht mehr begreifen wird; es kann also
geschehen, daß man ihr künftig nur noch eine literarhistorische Bedeutung
zugesteht. Aber diese wird sie behalten. Sie wird anch spätern Jahrhunderten
als das bedeutendste Bild des krankhaften, aber intensiven Strebens erscheinen,
welches sich unserer Generation bemächtigt hat. Wenn man längst dahinterge¬
kommen sein wird, daß die gefeierten Werke eines Victor Hugo, Eugen Sue,
Larmartine, Alfred de Musset u. s. w. nur als die wüsten Auswüchse einer un¬
bändigen, regellosen Phantasie und einer verschrobenen Reflexion zu betrachten
sind; wenn man dasselbe Urtheil über die Poesien des Herrn von Chateaubriand
ausgesprochen haben wird, deren Werth man eigentlich schon jetzt nur auf Treu
und Glauben annimmt, da wenig Menschen sie gelesen haben, so wird man doch
noch die Poesie in den Dichtungen Georges Sand's, trotz aller Verirrungen,
anerkennen; man wird sogar, indem man die Periode des sentimentalen Empfindens
und Denkens in einem weitern Zeitumfang zusammenfaßt, indem man die Werke
von Richardson, Rousseau (natürlich nur diejenigen Werke, die hierher gehören),
der Fran v. Stael u. s. w. mit darin begreift, vor allen diesen den bessern
I. S. Werken unserer Schriftstellerin den Preis zugestehen.




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[0426] Versuchen die nur dem Roman ungehörige Sprache und Darstellungsweise zu verlassen. Walter Scott und Bulwer sind Beispiele für diese Behauptung. Auch Byron möchte einen Beleg dafür geben. Georges Saud selbst hat sich schou in ihrer frühern Zeit mit Aehnlichem versucht; sie hat zwei Sprüchwörter ge¬ schrieben, wie der moderne Ausdruck für das freie, regellose Drama ist, Gabriel und die Missisippier. Das erste enthält die psychologischen Wunderlichkeiten eines Weibes, das als Manu erzogen ist, das andere ein allerliebst durchge¬ führtes, aber unbedeutendes Genrebild aus der Gesellschaft des vorigen Jahr¬ hunderts. Ich glaube aus allen diesen vier Stücken schließen zu können, daß Georges Sand ihren Beruf verkeimen würde, wenn sie ihre Thätigkeit nicht wieder der frühern Form zuwendete, obgleich ich weit entfernt bin, diese Be¬ hauptung als eine apodiktische Gewißheit darzustellen. Es bleibt mir noch übrig, das Gesammturtheil auszusprechen, welches sich als Schluß der gauzen bisherigen Betrachtung ergeben muß. Der Roman ge¬ hört, nach meiner Ansicht, wegen seiner laxen Form und der Willkür, die er verstattet, nicht zu denjenigen Gattungen der Kunst, die als classisch auf die Nach¬ welt übergehen werden. Die gelesensten Schriftsteller der neuern Zeit siud durch den größern Reiz der Neuheit, den spätere darboten, in ihrer Ausbreitung wenig¬ stens beeinträchtigt worden. Selbst Walter Scott ist es so gegangen. Zudem hat Georges Sand in den meisten ihrer Schriften mit Problemen zu thun gehabt, deren Berechtigung eine spätere Zeit nicht mehr begreifen wird; es kann also geschehen, daß man ihr künftig nur noch eine literarhistorische Bedeutung zugesteht. Aber diese wird sie behalten. Sie wird anch spätern Jahrhunderten als das bedeutendste Bild des krankhaften, aber intensiven Strebens erscheinen, welches sich unserer Generation bemächtigt hat. Wenn man längst dahinterge¬ kommen sein wird, daß die gefeierten Werke eines Victor Hugo, Eugen Sue, Larmartine, Alfred de Musset u. s. w. nur als die wüsten Auswüchse einer un¬ bändigen, regellosen Phantasie und einer verschrobenen Reflexion zu betrachten sind; wenn man dasselbe Urtheil über die Poesien des Herrn von Chateaubriand ausgesprochen haben wird, deren Werth man eigentlich schon jetzt nur auf Treu und Glauben annimmt, da wenig Menschen sie gelesen haben, so wird man doch noch die Poesie in den Dichtungen Georges Sand's, trotz aller Verirrungen, anerkennen; man wird sogar, indem man die Periode des sentimentalen Empfindens und Denkens in einem weitern Zeitumfang zusammenfaßt, indem man die Werke von Richardson, Rousseau (natürlich nur diejenigen Werke, die hierher gehören), der Fran v. Stael u. s. w. mit darin begreift, vor allen diesen den bessern I. S. Werken unserer Schriftstellerin den Preis zugestehen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/426>, abgerufen am 24.07.2024.