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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Diese Bedenklichkeiten stören die Aufmerksamkeit auf die Handlung um so mehr,
da Gracchus seinen ganzen Accent auf seine juristische Berechtigung legt.

Wenn sich dieses Bedenken nur auf diesen bestimmten Gegenstand aus der
römischen Geschichte bezieht, so gibt es andere, welche die ganze antike Ge¬
schichte treffen. Ich will ans den äußerlichen Grund, auf das Costüm nämlich,
welches unsere Schauspieler nicht mit Anstand zu tragen wissen, und welches zu
erlernen sie viel zu bequem siud, so daß dasselbe immer einen lächerlichen Ein¬
druck macht, kein größeres Gewicht legen, als die nothwendige Rücksicht ans die
Ausführbarkeit der Stücke, ohne welche unsere dramatische Kunst niemals weiter
kommen wird, verdient; das Hauptbedenken liegt darin, daß wir in antiken
Stücken niemals zu eiuer Anschauung der Totalität des römischen Lebens gelangen
sondern immer nur zu der Anschauung einer bestimmten Seite desselben, der
politischen. Das Bedürfniß, beide Geschlechter im Drama vereinigt zu sehen,
ist nicht blos aus der schlechten Romanlectüre unserer Zeit hervorgegangen, wir
wollen den Charakter, dem wir unsere Theilnahme schenken sollen, nicht blos
als Staatsmann, als Feldherrn und dergl. begreifen, sondern in der Totalität
seiner menschlichen Beziehungen; dazu gehört aber sein Verhältniß zum Weibe.
Ueber dieses haben wir theils aus dem Alterthum zu wenig reale, lebendige An¬
schauung aufbewahrt, theils widerstrebt das, was wir aus deu Zeiten der Re¬
publik wissen, geradezu der dramatischen Behandlung. Die römischen Frauen,
die wir benutzen können, werden immer auf den Typus der Volumnia und der
Portia Herauskommen; es wird daher zweckmäßiger sein, wenn der Dramatiker
einen Stoff aufsucht, der uns menschlich und gemüthlich näher liegt, als die
römische Geschichte.

Wenn er aber die römische Geschichte vorzieht, so muß er in seinen Studien
gewissenhafter sein, als der Dichter des Tiberius Gracchus; er muß z. B. uicht
den Sulla zu einem Collegen des Scipio Nasica machen -- von Marius will
ich nicht reden, da dieser als der Gegensatz des revolutionären Demagogen gegen
den gesetzlichen Fortschritt des Helden wenigstens eine dramatische Intention
enthält -- er muß die Anekdote vou dem Centurio aus deu Samniterkriegen
nicht in den numantinischen Krieg verlegen, er muß den Feldherrn nicht im
Feldherrncostüm einen abgesonderten Sitz im Senat anweisen, er muß die Unter¬
handlungen mit auswärtigen Völkern nicht von einem einfachen Senator führen
lassen u. s. w. Indessen das Alles sind Verstöße, die sich dnrch ein sorgfältiges
Studium vermeiden lassen, wenw nur ein tüchtiger Fonds da ist. Aber auch
dieser ist uicht genügend, wenn nicht zweierlei hinzukommt, was für die Tragödie
ebenso unerläßlich ist wie für das Lustspiel: Studium der menschlichen Natur,
wie sie sich in dem wirklichen Leben, in der wirklichen Gesellschaft darstellt, und
I. S. strenge Kritik in der Anwendung der Kunstmittel.




Diese Bedenklichkeiten stören die Aufmerksamkeit auf die Handlung um so mehr,
da Gracchus seinen ganzen Accent auf seine juristische Berechtigung legt.

Wenn sich dieses Bedenken nur auf diesen bestimmten Gegenstand aus der
römischen Geschichte bezieht, so gibt es andere, welche die ganze antike Ge¬
schichte treffen. Ich will ans den äußerlichen Grund, auf das Costüm nämlich,
welches unsere Schauspieler nicht mit Anstand zu tragen wissen, und welches zu
erlernen sie viel zu bequem siud, so daß dasselbe immer einen lächerlichen Ein¬
druck macht, kein größeres Gewicht legen, als die nothwendige Rücksicht ans die
Ausführbarkeit der Stücke, ohne welche unsere dramatische Kunst niemals weiter
kommen wird, verdient; das Hauptbedenken liegt darin, daß wir in antiken
Stücken niemals zu eiuer Anschauung der Totalität des römischen Lebens gelangen
sondern immer nur zu der Anschauung einer bestimmten Seite desselben, der
politischen. Das Bedürfniß, beide Geschlechter im Drama vereinigt zu sehen,
ist nicht blos aus der schlechten Romanlectüre unserer Zeit hervorgegangen, wir
wollen den Charakter, dem wir unsere Theilnahme schenken sollen, nicht blos
als Staatsmann, als Feldherrn und dergl. begreifen, sondern in der Totalität
seiner menschlichen Beziehungen; dazu gehört aber sein Verhältniß zum Weibe.
Ueber dieses haben wir theils aus dem Alterthum zu wenig reale, lebendige An¬
schauung aufbewahrt, theils widerstrebt das, was wir aus deu Zeiten der Re¬
publik wissen, geradezu der dramatischen Behandlung. Die römischen Frauen,
die wir benutzen können, werden immer auf den Typus der Volumnia und der
Portia Herauskommen; es wird daher zweckmäßiger sein, wenn der Dramatiker
einen Stoff aufsucht, der uns menschlich und gemüthlich näher liegt, als die
römische Geschichte.

Wenn er aber die römische Geschichte vorzieht, so muß er in seinen Studien
gewissenhafter sein, als der Dichter des Tiberius Gracchus; er muß z. B. uicht
den Sulla zu einem Collegen des Scipio Nasica machen — von Marius will
ich nicht reden, da dieser als der Gegensatz des revolutionären Demagogen gegen
den gesetzlichen Fortschritt des Helden wenigstens eine dramatische Intention
enthält — er muß die Anekdote vou dem Centurio aus deu Samniterkriegen
nicht in den numantinischen Krieg verlegen, er muß den Feldherrn nicht im
Feldherrncostüm einen abgesonderten Sitz im Senat anweisen, er muß die Unter¬
handlungen mit auswärtigen Völkern nicht von einem einfachen Senator führen
lassen u. s. w. Indessen das Alles sind Verstöße, die sich dnrch ein sorgfältiges
Studium vermeiden lassen, wenw nur ein tüchtiger Fonds da ist. Aber auch
dieser ist uicht genügend, wenn nicht zweierlei hinzukommt, was für die Tragödie
ebenso unerläßlich ist wie für das Lustspiel: Studium der menschlichen Natur,
wie sie sich in dem wirklichen Leben, in der wirklichen Gesellschaft darstellt, und
I. S. strenge Kritik in der Anwendung der Kunstmittel.




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[0420] Diese Bedenklichkeiten stören die Aufmerksamkeit auf die Handlung um so mehr, da Gracchus seinen ganzen Accent auf seine juristische Berechtigung legt. Wenn sich dieses Bedenken nur auf diesen bestimmten Gegenstand aus der römischen Geschichte bezieht, so gibt es andere, welche die ganze antike Ge¬ schichte treffen. Ich will ans den äußerlichen Grund, auf das Costüm nämlich, welches unsere Schauspieler nicht mit Anstand zu tragen wissen, und welches zu erlernen sie viel zu bequem siud, so daß dasselbe immer einen lächerlichen Ein¬ druck macht, kein größeres Gewicht legen, als die nothwendige Rücksicht ans die Ausführbarkeit der Stücke, ohne welche unsere dramatische Kunst niemals weiter kommen wird, verdient; das Hauptbedenken liegt darin, daß wir in antiken Stücken niemals zu eiuer Anschauung der Totalität des römischen Lebens gelangen sondern immer nur zu der Anschauung einer bestimmten Seite desselben, der politischen. Das Bedürfniß, beide Geschlechter im Drama vereinigt zu sehen, ist nicht blos aus der schlechten Romanlectüre unserer Zeit hervorgegangen, wir wollen den Charakter, dem wir unsere Theilnahme schenken sollen, nicht blos als Staatsmann, als Feldherrn und dergl. begreifen, sondern in der Totalität seiner menschlichen Beziehungen; dazu gehört aber sein Verhältniß zum Weibe. Ueber dieses haben wir theils aus dem Alterthum zu wenig reale, lebendige An¬ schauung aufbewahrt, theils widerstrebt das, was wir aus deu Zeiten der Re¬ publik wissen, geradezu der dramatischen Behandlung. Die römischen Frauen, die wir benutzen können, werden immer auf den Typus der Volumnia und der Portia Herauskommen; es wird daher zweckmäßiger sein, wenn der Dramatiker einen Stoff aufsucht, der uns menschlich und gemüthlich näher liegt, als die römische Geschichte. Wenn er aber die römische Geschichte vorzieht, so muß er in seinen Studien gewissenhafter sein, als der Dichter des Tiberius Gracchus; er muß z. B. uicht den Sulla zu einem Collegen des Scipio Nasica machen — von Marius will ich nicht reden, da dieser als der Gegensatz des revolutionären Demagogen gegen den gesetzlichen Fortschritt des Helden wenigstens eine dramatische Intention enthält — er muß die Anekdote vou dem Centurio aus deu Samniterkriegen nicht in den numantinischen Krieg verlegen, er muß den Feldherrn nicht im Feldherrncostüm einen abgesonderten Sitz im Senat anweisen, er muß die Unter¬ handlungen mit auswärtigen Völkern nicht von einem einfachen Senator führen lassen u. s. w. Indessen das Alles sind Verstöße, die sich dnrch ein sorgfältiges Studium vermeiden lassen, wenw nur ein tüchtiger Fonds da ist. Aber auch dieser ist uicht genügend, wenn nicht zweierlei hinzukommt, was für die Tragödie ebenso unerläßlich ist wie für das Lustspiel: Studium der menschlichen Natur, wie sie sich in dem wirklichen Leben, in der wirklichen Gesellschaft darstellt, und I. S. strenge Kritik in der Anwendung der Kunstmittel.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/420>, abgerufen am 28.06.2024.