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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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schichtsphilosophische Erbauungsstunde gehalten. Wenn auch die Personen auf dem
Theater anders reden und sich anders benehmen, als vernünftige Menschen reden
und sich benehmen, so denkt das Publicum, dafür sind wir im 16. Jahrhundert;
und wenn in dem, was geschieht, Verstand und Zusammenhang fehlt, so vertröstet
es sich auf irgend eine symbolische oder philosophische Auslegung dieses Räthsels.
Wenn aber das Parterre die Geschichte, welche ihm auf den Bretern vorgeführt
wird, selbst mit erlebt hat, wenn es die Gesellschaft, die man ihm zeichnen will,
ans eigner Anschauung keimt, und wenn noch dazu der Schimmer der Schiller-
schen Jamben abgestreift wird, die ihm den Unwerth der Phrasen versteckten, so
ist es nicht so leicht zufriedengestellt, und es hat Recht daran. Gerade dieser
Umstand sollte unsere jungen Dichter, die nicht ans den augenblicklichen Erfolg
speculiren, sondern etwas Bleibendes zu leisten wünschen, dazu veranlassen, den In¬
halt ihrer Stücke in die Gegenwart zu verlegen und sie in Prosa zu schreiben;
gerade weil sie dadurch eine schärfere Kritik herausfordern. Kommt dann eine
Zeit, wo das Theater sich aus seiner jetzigen kläglichen Versunkenheit erhoben
haben wird, dann werden wir die vollendete Schönheit auch wieder in der rhyth¬
mischen Form, auch wieder mit dem Ernst größerer historischer Probleme anzu¬
streben haben. Zunächst kommt es uus nur auf Wahrheit der Charakteristik,
auf Gewissenhaftigkeit der Motivirung, auf Einheit, Verstand und Zusammenhang
in der Handlung an. Historische Dramen nach der Schablone zu verfertigen
und die pseudophilosophischen Redensarten, die wir nnn schon hundertmal gehört,
zum hundert und ersten Male zu wiederholen, bringt der Kunst keinen Gewinn.

Das einzige von diesen historischen Dramen, welches einige Beachtung ver¬
dient, ist Tiberius Gracchus von Moritz Heydrich. Nicht als ob wir
es mit einem wirklichen Kunstwerk zu thun hätten; im Gegentheil wird der junge
Dichter wohl daran thun, sich durch die Lobhudeleien befreundeter Gemüther nicht
irre führen zu lassen; aber es sind zwei Umstände in dem Stück, welche wenig¬
stens für die Zukunft etwas versprechen.

Einmal hat der Dichter mit Ernst und Gewissenhaftigkeit die Begebenheiten
und Charaktere nach seinem Zweck arrangirt; man kann von jeder Scene und
von jedem Characterzug, den er anführt, den Grund angeben, warum er sie an¬
führt, in welcher Beziehung sie zu der Totalität der Handlung stehen. Häufig
genug ist die Absicht verfehlt, häufig genug der Effect sehr leicht genommen, es
sind z. B. Trivialitäten, wie der unvermeidliche prophetische Traum der Mutter
vor dem Eude ihres Sohnes und ähnliche darin vorhanden. Der Dichter weiß
die Größe seines Helden noch nicht anders auszudrücken, als daß er eine Person
nach der audern auftreten läßt, die zu ihm sagt: O, großer Maun! Der Aus¬
gang des Stücks ist völlig zerfahren, es ist sogar der historische Stoss zum Nach'
theil der dramatischen Wirkuug verändert worden. In der Geschickte fallen die
Senatoren mit zerbrochenen Tischen und Stühlen über Gracchus und seine An-


schichtsphilosophische Erbauungsstunde gehalten. Wenn auch die Personen auf dem
Theater anders reden und sich anders benehmen, als vernünftige Menschen reden
und sich benehmen, so denkt das Publicum, dafür sind wir im 16. Jahrhundert;
und wenn in dem, was geschieht, Verstand und Zusammenhang fehlt, so vertröstet
es sich auf irgend eine symbolische oder philosophische Auslegung dieses Räthsels.
Wenn aber das Parterre die Geschichte, welche ihm auf den Bretern vorgeführt
wird, selbst mit erlebt hat, wenn es die Gesellschaft, die man ihm zeichnen will,
ans eigner Anschauung keimt, und wenn noch dazu der Schimmer der Schiller-
schen Jamben abgestreift wird, die ihm den Unwerth der Phrasen versteckten, so
ist es nicht so leicht zufriedengestellt, und es hat Recht daran. Gerade dieser
Umstand sollte unsere jungen Dichter, die nicht ans den augenblicklichen Erfolg
speculiren, sondern etwas Bleibendes zu leisten wünschen, dazu veranlassen, den In¬
halt ihrer Stücke in die Gegenwart zu verlegen und sie in Prosa zu schreiben;
gerade weil sie dadurch eine schärfere Kritik herausfordern. Kommt dann eine
Zeit, wo das Theater sich aus seiner jetzigen kläglichen Versunkenheit erhoben
haben wird, dann werden wir die vollendete Schönheit auch wieder in der rhyth¬
mischen Form, auch wieder mit dem Ernst größerer historischer Probleme anzu¬
streben haben. Zunächst kommt es uus nur auf Wahrheit der Charakteristik,
auf Gewissenhaftigkeit der Motivirung, auf Einheit, Verstand und Zusammenhang
in der Handlung an. Historische Dramen nach der Schablone zu verfertigen
und die pseudophilosophischen Redensarten, die wir nnn schon hundertmal gehört,
zum hundert und ersten Male zu wiederholen, bringt der Kunst keinen Gewinn.

Das einzige von diesen historischen Dramen, welches einige Beachtung ver¬
dient, ist Tiberius Gracchus von Moritz Heydrich. Nicht als ob wir
es mit einem wirklichen Kunstwerk zu thun hätten; im Gegentheil wird der junge
Dichter wohl daran thun, sich durch die Lobhudeleien befreundeter Gemüther nicht
irre führen zu lassen; aber es sind zwei Umstände in dem Stück, welche wenig¬
stens für die Zukunft etwas versprechen.

Einmal hat der Dichter mit Ernst und Gewissenhaftigkeit die Begebenheiten
und Charaktere nach seinem Zweck arrangirt; man kann von jeder Scene und
von jedem Characterzug, den er anführt, den Grund angeben, warum er sie an¬
führt, in welcher Beziehung sie zu der Totalität der Handlung stehen. Häufig
genug ist die Absicht verfehlt, häufig genug der Effect sehr leicht genommen, es
sind z. B. Trivialitäten, wie der unvermeidliche prophetische Traum der Mutter
vor dem Eude ihres Sohnes und ähnliche darin vorhanden. Der Dichter weiß
die Größe seines Helden noch nicht anders auszudrücken, als daß er eine Person
nach der audern auftreten läßt, die zu ihm sagt: O, großer Maun! Der Aus¬
gang des Stücks ist völlig zerfahren, es ist sogar der historische Stoss zum Nach'
theil der dramatischen Wirkuug verändert worden. In der Geschickte fallen die
Senatoren mit zerbrochenen Tischen und Stühlen über Gracchus und seine An-


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[0418] schichtsphilosophische Erbauungsstunde gehalten. Wenn auch die Personen auf dem Theater anders reden und sich anders benehmen, als vernünftige Menschen reden und sich benehmen, so denkt das Publicum, dafür sind wir im 16. Jahrhundert; und wenn in dem, was geschieht, Verstand und Zusammenhang fehlt, so vertröstet es sich auf irgend eine symbolische oder philosophische Auslegung dieses Räthsels. Wenn aber das Parterre die Geschichte, welche ihm auf den Bretern vorgeführt wird, selbst mit erlebt hat, wenn es die Gesellschaft, die man ihm zeichnen will, ans eigner Anschauung keimt, und wenn noch dazu der Schimmer der Schiller- schen Jamben abgestreift wird, die ihm den Unwerth der Phrasen versteckten, so ist es nicht so leicht zufriedengestellt, und es hat Recht daran. Gerade dieser Umstand sollte unsere jungen Dichter, die nicht ans den augenblicklichen Erfolg speculiren, sondern etwas Bleibendes zu leisten wünschen, dazu veranlassen, den In¬ halt ihrer Stücke in die Gegenwart zu verlegen und sie in Prosa zu schreiben; gerade weil sie dadurch eine schärfere Kritik herausfordern. Kommt dann eine Zeit, wo das Theater sich aus seiner jetzigen kläglichen Versunkenheit erhoben haben wird, dann werden wir die vollendete Schönheit auch wieder in der rhyth¬ mischen Form, auch wieder mit dem Ernst größerer historischer Probleme anzu¬ streben haben. Zunächst kommt es uus nur auf Wahrheit der Charakteristik, auf Gewissenhaftigkeit der Motivirung, auf Einheit, Verstand und Zusammenhang in der Handlung an. Historische Dramen nach der Schablone zu verfertigen und die pseudophilosophischen Redensarten, die wir nnn schon hundertmal gehört, zum hundert und ersten Male zu wiederholen, bringt der Kunst keinen Gewinn. Das einzige von diesen historischen Dramen, welches einige Beachtung ver¬ dient, ist Tiberius Gracchus von Moritz Heydrich. Nicht als ob wir es mit einem wirklichen Kunstwerk zu thun hätten; im Gegentheil wird der junge Dichter wohl daran thun, sich durch die Lobhudeleien befreundeter Gemüther nicht irre führen zu lassen; aber es sind zwei Umstände in dem Stück, welche wenig¬ stens für die Zukunft etwas versprechen. Einmal hat der Dichter mit Ernst und Gewissenhaftigkeit die Begebenheiten und Charaktere nach seinem Zweck arrangirt; man kann von jeder Scene und von jedem Characterzug, den er anführt, den Grund angeben, warum er sie an¬ führt, in welcher Beziehung sie zu der Totalität der Handlung stehen. Häufig genug ist die Absicht verfehlt, häufig genug der Effect sehr leicht genommen, es sind z. B. Trivialitäten, wie der unvermeidliche prophetische Traum der Mutter vor dem Eude ihres Sohnes und ähnliche darin vorhanden. Der Dichter weiß die Größe seines Helden noch nicht anders auszudrücken, als daß er eine Person nach der audern auftreten läßt, die zu ihm sagt: O, großer Maun! Der Aus¬ gang des Stücks ist völlig zerfahren, es ist sogar der historische Stoss zum Nach' theil der dramatischen Wirkuug verändert worden. In der Geschickte fallen die Senatoren mit zerbrochenen Tischen und Stühlen über Gracchus und seine An-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/418>, abgerufen am 28.06.2024.