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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Volk vor allen übrigen Nationen auszeichnet. In dieses Streben trat um der
Widerspruch, daß es ans das gestimmte Volk ausgedehnt werden sollte, während
es eigentlich ans eine höchst exclusive Aristokratie des Geistes und des Herzens
berechnet war. Das Wesen des Socialismus kommt daraus heraus, individuelle
Krankheitömomente zu verallgemeinern, als ein sittliches Problem darzustellen,
was eigentlich nnr eine pathologische Berechtigung hat. Dieses Streben ihrer
Zeit erfaßt Georges Saud mit aller Gluth eines leidenschaftlichen Herzens. Was
bei den übrigen Schriftstellern dieser Richtung immer einen gelinden oder auch
sehr bedeutenden Anstrich von Affectation und Uebertreibung hatte, trat bei ihr
mit aller Gewalt und Sicherheit einer ursprünglichen Natur auf. Aus diesem
Grunde wirken die Weiber in unserer Literatur so viel. Ihre Kenntnisse siud auf eiuen
ziemlich engen Kreis beschränkt, und sie werden daher, wenn sie Philosophiren, in
mannigfache Irrthümer verfallen; aber sie sehen anch die vielseitigen Hindernisse
nicht, welche sich ihrem voreiligen Streben in den Weg stellen, und die Fluth
ihrer Leidenschaft braust mit jener natürlichen Kraft dahin, die immer einnimmt,
anch wenn man voraussieht, daß sie ihr Ziel nicht erreichen kann.

Aber es wirkte dabei anch jene Poesie mit, die sich schon in den ersten lei¬
denschaftlichen Versuchen nicht verleugnete, und die später immer reiner hervortrat.
Der Reiz ihrer Poesie besteht in eiuer wunderbaren Mischung von gläubiger
Hingebung und heiterer Ironie, die man bei den Franzosen sonst immer nur ge¬
trennt antrifft. Es ist nicht eigentlich was wir Humor nennen, denn der Humor
hebt das Pathos auf, oder gibt ihm wenigstens eine wesentlich veränderte Gestalt.
Bei Georges Sand dagegen geht Beides neben einander; mit der Grazie eines
edlen Geistes und jener Feinheit der Beobachtung, die nnr der französischen Ge¬
sellschaft eigenthümlich ist, weiß sie in kleinen, skizzenhaft hingeworfenen Zügen
bestimmter und schärfer zu charakterisiren, als es einem Engländer bei aller epischen
Breite seines Humors möglich wäre. Mit tiefem Blick durchschaut sie die Schwächen
der menschlichen Natur, und wenn sie im Anfang in der glühenden Begeisterung
für ihre ideale Welt, an die sie um so fester glaubt, je unklarer sie ihr vorschwebt,
zum Haß gegen alles Kleine und Schlechte geneigt ist, so bringt doch ihre
ursprünglich gesunde Natur bald jene Humanität hervor, die nicht mehr das
Schlechte als solches beschönigt, sondern innerhalb des Schlechten dem Keim
des Guten nachzuspüren weiß. So ergießt sich über ihre Darstellung zwar jene
Melancholie, die stets anzieht, wenn sie keine Folge der Schwäche ist, zugleich
aber scheint durch die trüben Wolken ein Helles Sonnenlicht, welches sich immer
mehr Bahn bricht, bis wir uns endlich eines heitern Himmels erfreuen.

Es ist diese Mischung entgegengesetzter Elemente sowohl in ihrer Sprache,
in der sich bald heitere Grazie, bald tiefe Schwermuth ausspricht, wie auch in
der künstlerischen Composition ihrer Geschichten und Charaktere wiederzufinden.
Wir sehen überall das Streben uach eiuer harmonischen Totalität; fast überall


Grcnzvotcn. I. 1851. ^

Volk vor allen übrigen Nationen auszeichnet. In dieses Streben trat um der
Widerspruch, daß es ans das gestimmte Volk ausgedehnt werden sollte, während
es eigentlich ans eine höchst exclusive Aristokratie des Geistes und des Herzens
berechnet war. Das Wesen des Socialismus kommt daraus heraus, individuelle
Krankheitömomente zu verallgemeinern, als ein sittliches Problem darzustellen,
was eigentlich nnr eine pathologische Berechtigung hat. Dieses Streben ihrer
Zeit erfaßt Georges Saud mit aller Gluth eines leidenschaftlichen Herzens. Was
bei den übrigen Schriftstellern dieser Richtung immer einen gelinden oder auch
sehr bedeutenden Anstrich von Affectation und Uebertreibung hatte, trat bei ihr
mit aller Gewalt und Sicherheit einer ursprünglichen Natur auf. Aus diesem
Grunde wirken die Weiber in unserer Literatur so viel. Ihre Kenntnisse siud auf eiuen
ziemlich engen Kreis beschränkt, und sie werden daher, wenn sie Philosophiren, in
mannigfache Irrthümer verfallen; aber sie sehen anch die vielseitigen Hindernisse
nicht, welche sich ihrem voreiligen Streben in den Weg stellen, und die Fluth
ihrer Leidenschaft braust mit jener natürlichen Kraft dahin, die immer einnimmt,
anch wenn man voraussieht, daß sie ihr Ziel nicht erreichen kann.

Aber es wirkte dabei anch jene Poesie mit, die sich schon in den ersten lei¬
denschaftlichen Versuchen nicht verleugnete, und die später immer reiner hervortrat.
Der Reiz ihrer Poesie besteht in eiuer wunderbaren Mischung von gläubiger
Hingebung und heiterer Ironie, die man bei den Franzosen sonst immer nur ge¬
trennt antrifft. Es ist nicht eigentlich was wir Humor nennen, denn der Humor
hebt das Pathos auf, oder gibt ihm wenigstens eine wesentlich veränderte Gestalt.
Bei Georges Sand dagegen geht Beides neben einander; mit der Grazie eines
edlen Geistes und jener Feinheit der Beobachtung, die nnr der französischen Ge¬
sellschaft eigenthümlich ist, weiß sie in kleinen, skizzenhaft hingeworfenen Zügen
bestimmter und schärfer zu charakterisiren, als es einem Engländer bei aller epischen
Breite seines Humors möglich wäre. Mit tiefem Blick durchschaut sie die Schwächen
der menschlichen Natur, und wenn sie im Anfang in der glühenden Begeisterung
für ihre ideale Welt, an die sie um so fester glaubt, je unklarer sie ihr vorschwebt,
zum Haß gegen alles Kleine und Schlechte geneigt ist, so bringt doch ihre
ursprünglich gesunde Natur bald jene Humanität hervor, die nicht mehr das
Schlechte als solches beschönigt, sondern innerhalb des Schlechten dem Keim
des Guten nachzuspüren weiß. So ergießt sich über ihre Darstellung zwar jene
Melancholie, die stets anzieht, wenn sie keine Folge der Schwäche ist, zugleich
aber scheint durch die trüben Wolken ein Helles Sonnenlicht, welches sich immer
mehr Bahn bricht, bis wir uns endlich eines heitern Himmels erfreuen.

Es ist diese Mischung entgegengesetzter Elemente sowohl in ihrer Sprache,
in der sich bald heitere Grazie, bald tiefe Schwermuth ausspricht, wie auch in
der künstlerischen Composition ihrer Geschichten und Charaktere wiederzufinden.
Wir sehen überall das Streben uach eiuer harmonischen Totalität; fast überall


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[0381] Volk vor allen übrigen Nationen auszeichnet. In dieses Streben trat um der Widerspruch, daß es ans das gestimmte Volk ausgedehnt werden sollte, während es eigentlich ans eine höchst exclusive Aristokratie des Geistes und des Herzens berechnet war. Das Wesen des Socialismus kommt daraus heraus, individuelle Krankheitömomente zu verallgemeinern, als ein sittliches Problem darzustellen, was eigentlich nnr eine pathologische Berechtigung hat. Dieses Streben ihrer Zeit erfaßt Georges Saud mit aller Gluth eines leidenschaftlichen Herzens. Was bei den übrigen Schriftstellern dieser Richtung immer einen gelinden oder auch sehr bedeutenden Anstrich von Affectation und Uebertreibung hatte, trat bei ihr mit aller Gewalt und Sicherheit einer ursprünglichen Natur auf. Aus diesem Grunde wirken die Weiber in unserer Literatur so viel. Ihre Kenntnisse siud auf eiuen ziemlich engen Kreis beschränkt, und sie werden daher, wenn sie Philosophiren, in mannigfache Irrthümer verfallen; aber sie sehen anch die vielseitigen Hindernisse nicht, welche sich ihrem voreiligen Streben in den Weg stellen, und die Fluth ihrer Leidenschaft braust mit jener natürlichen Kraft dahin, die immer einnimmt, anch wenn man voraussieht, daß sie ihr Ziel nicht erreichen kann. Aber es wirkte dabei anch jene Poesie mit, die sich schon in den ersten lei¬ denschaftlichen Versuchen nicht verleugnete, und die später immer reiner hervortrat. Der Reiz ihrer Poesie besteht in eiuer wunderbaren Mischung von gläubiger Hingebung und heiterer Ironie, die man bei den Franzosen sonst immer nur ge¬ trennt antrifft. Es ist nicht eigentlich was wir Humor nennen, denn der Humor hebt das Pathos auf, oder gibt ihm wenigstens eine wesentlich veränderte Gestalt. Bei Georges Sand dagegen geht Beides neben einander; mit der Grazie eines edlen Geistes und jener Feinheit der Beobachtung, die nnr der französischen Ge¬ sellschaft eigenthümlich ist, weiß sie in kleinen, skizzenhaft hingeworfenen Zügen bestimmter und schärfer zu charakterisiren, als es einem Engländer bei aller epischen Breite seines Humors möglich wäre. Mit tiefem Blick durchschaut sie die Schwächen der menschlichen Natur, und wenn sie im Anfang in der glühenden Begeisterung für ihre ideale Welt, an die sie um so fester glaubt, je unklarer sie ihr vorschwebt, zum Haß gegen alles Kleine und Schlechte geneigt ist, so bringt doch ihre ursprünglich gesunde Natur bald jene Humanität hervor, die nicht mehr das Schlechte als solches beschönigt, sondern innerhalb des Schlechten dem Keim des Guten nachzuspüren weiß. So ergießt sich über ihre Darstellung zwar jene Melancholie, die stets anzieht, wenn sie keine Folge der Schwäche ist, zugleich aber scheint durch die trüben Wolken ein Helles Sonnenlicht, welches sich immer mehr Bahn bricht, bis wir uns endlich eines heitern Himmels erfreuen. Es ist diese Mischung entgegengesetzter Elemente sowohl in ihrer Sprache, in der sich bald heitere Grazie, bald tiefe Schwermuth ausspricht, wie auch in der künstlerischen Composition ihrer Geschichten und Charaktere wiederzufinden. Wir sehen überall das Streben uach eiuer harmonischen Totalität; fast überall Grcnzvotcn. I. 1851. ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/381>, abgerufen am 28.06.2024.