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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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durch die unvergleichlich höhere Würde und Wichtigkeit, welche in unserer Auf-
fassung der Geschichte als dem Entwickelungsproceß unsers Wesens gebührt. Zu¬
gleich erweitert sich für den neueren Bildhauer der Kreis humoristischer Dar¬
stellung, indem der Humor aus dem Grotesken des mythischen Daseins -- ich
erinnere an die antiken Satyrn und Silene -- in das menschliche Leben tritt
und eine Genre-Sculptur zu erzeugen fähig ist, welche das Mittelalter in roman¬
tischer Phantastik erstrebte, die Gegenwart natürlich nur der Komik des Wirk¬
lichen verdanken darf. So haben wir für die moderne Bildhauerkunst drei um¬
fassende Gebiete. Obeuan steht für kolossalen Maßstab ein historischer Stil, wie
keine frühere Zeit ihn hervorzubringen befähigt war, nud für kleineren Maßstab
gruppiren sich um denselben die menschliche Gestalt in ihrer Nacktheit und edlen
Gewandung sowie das humoristische Genre, dem als viertes Gebiet endlich das
Portrait sich anreiht.

Dem Gesagten brauche ich kaum noch hinzuzufügen, daß mir die kolossalen
Minerven-, Viktorien- und Kriegergestalten in ihrer sehr abstrakten Verbindung
als eine wahrhaft würdige Aufgabe für die lebende Sculptur nicht erscheinen.
Ich wundere mich daher anch nicht darüber, daß die meisten Gruppen trotz ihrer
zum Theil sehr geschickten, zum Theil selbst geschmackvollen Ausführung ohne
Eindruck bleiben, ich bewundere vielmehr die Art, wie es dem Bildhauer Drake
gelang, der seinigen dennoch einen fesselnden Inhalt zu geben. Gerade ihm wurde
eine Aufgabe zu Theil, welche unter den verbrauchten Themen vielleicht das ver¬
brauchteste ist; er hat die Schlußgruppe auszuführen Viktoria, welche dem Sieger
einen Kranz auf das Haupt setzt. Hören Sie nun, wie der Künstler diese Auf¬
gabe löste, und Sie werden mit mir die geistvolle Originalität seines Werkes
anerkennen. Drake sucht zunächst das Göttliche seiner Göttin nicht in äußer¬
lichen Hervorragen, sondern im geistigen Ausdruck. Der Krieger ist bei ihm zum
Mann geworden. In der selbstbewußten Kraft des Siegers steht er da und
schaut mit ernster Aufmerksamkeit im festen Blicke auf den Kampfplatz hin, indem
er das Schwert in die Scheide stößt. Die Rechte, welche diese Bewegung aus¬
führt, hat dieselbe noch nicht vollendet, noch ist das Schwert nicht vollständig in
die Scheide zurückgekehrt, und die erhobene Haltung der Linken, welche die
Scheide dem aufzunehmenden Stahl entgegenführt, scheint anzudeuten, daß noch so
eben das spannende Gefühl vorhanden war, als könne etwa der Kampf noch ein¬
mal entbrennen. Ihm naht die Göttin des Sieges. Sie tritt nicht herzu als
eine sinnliche Erscheinung, vor der sich der Sieger zu beugen hätte; unbemerkt
schwebt sie herau und vorüber und läßt den Eichenkranz auf das Haupt des
Helden fallen. Es ist die Siegsgewißheit, die durch den betrachtenden Blick des
Kriegers sich in seine Seele senkt, es ist eine gedankenvolle Allegorie, die zwar
von antiker Verbildlichnng, wie das Thema mit Nothwendigkeit bedingte, aus¬
geht, aber die antike Tradition durchbricht und eine moderner Empfindung völlig


durch die unvergleichlich höhere Würde und Wichtigkeit, welche in unserer Auf-
fassung der Geschichte als dem Entwickelungsproceß unsers Wesens gebührt. Zu¬
gleich erweitert sich für den neueren Bildhauer der Kreis humoristischer Dar¬
stellung, indem der Humor aus dem Grotesken des mythischen Daseins — ich
erinnere an die antiken Satyrn und Silene — in das menschliche Leben tritt
und eine Genre-Sculptur zu erzeugen fähig ist, welche das Mittelalter in roman¬
tischer Phantastik erstrebte, die Gegenwart natürlich nur der Komik des Wirk¬
lichen verdanken darf. So haben wir für die moderne Bildhauerkunst drei um¬
fassende Gebiete. Obeuan steht für kolossalen Maßstab ein historischer Stil, wie
keine frühere Zeit ihn hervorzubringen befähigt war, nud für kleineren Maßstab
gruppiren sich um denselben die menschliche Gestalt in ihrer Nacktheit und edlen
Gewandung sowie das humoristische Genre, dem als viertes Gebiet endlich das
Portrait sich anreiht.

Dem Gesagten brauche ich kaum noch hinzuzufügen, daß mir die kolossalen
Minerven-, Viktorien- und Kriegergestalten in ihrer sehr abstrakten Verbindung
als eine wahrhaft würdige Aufgabe für die lebende Sculptur nicht erscheinen.
Ich wundere mich daher anch nicht darüber, daß die meisten Gruppen trotz ihrer
zum Theil sehr geschickten, zum Theil selbst geschmackvollen Ausführung ohne
Eindruck bleiben, ich bewundere vielmehr die Art, wie es dem Bildhauer Drake
gelang, der seinigen dennoch einen fesselnden Inhalt zu geben. Gerade ihm wurde
eine Aufgabe zu Theil, welche unter den verbrauchten Themen vielleicht das ver¬
brauchteste ist; er hat die Schlußgruppe auszuführen Viktoria, welche dem Sieger
einen Kranz auf das Haupt setzt. Hören Sie nun, wie der Künstler diese Auf¬
gabe löste, und Sie werden mit mir die geistvolle Originalität seines Werkes
anerkennen. Drake sucht zunächst das Göttliche seiner Göttin nicht in äußer¬
lichen Hervorragen, sondern im geistigen Ausdruck. Der Krieger ist bei ihm zum
Mann geworden. In der selbstbewußten Kraft des Siegers steht er da und
schaut mit ernster Aufmerksamkeit im festen Blicke auf den Kampfplatz hin, indem
er das Schwert in die Scheide stößt. Die Rechte, welche diese Bewegung aus¬
führt, hat dieselbe noch nicht vollendet, noch ist das Schwert nicht vollständig in
die Scheide zurückgekehrt, und die erhobene Haltung der Linken, welche die
Scheide dem aufzunehmenden Stahl entgegenführt, scheint anzudeuten, daß noch so
eben das spannende Gefühl vorhanden war, als könne etwa der Kampf noch ein¬
mal entbrennen. Ihm naht die Göttin des Sieges. Sie tritt nicht herzu als
eine sinnliche Erscheinung, vor der sich der Sieger zu beugen hätte; unbemerkt
schwebt sie herau und vorüber und läßt den Eichenkranz auf das Haupt des
Helden fallen. Es ist die Siegsgewißheit, die durch den betrachtenden Blick des
Kriegers sich in seine Seele senkt, es ist eine gedankenvolle Allegorie, die zwar
von antiker Verbildlichnng, wie das Thema mit Nothwendigkeit bedingte, aus¬
geht, aber die antike Tradition durchbricht und eine moderner Empfindung völlig


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[0378] durch die unvergleichlich höhere Würde und Wichtigkeit, welche in unserer Auf- fassung der Geschichte als dem Entwickelungsproceß unsers Wesens gebührt. Zu¬ gleich erweitert sich für den neueren Bildhauer der Kreis humoristischer Dar¬ stellung, indem der Humor aus dem Grotesken des mythischen Daseins — ich erinnere an die antiken Satyrn und Silene — in das menschliche Leben tritt und eine Genre-Sculptur zu erzeugen fähig ist, welche das Mittelalter in roman¬ tischer Phantastik erstrebte, die Gegenwart natürlich nur der Komik des Wirk¬ lichen verdanken darf. So haben wir für die moderne Bildhauerkunst drei um¬ fassende Gebiete. Obeuan steht für kolossalen Maßstab ein historischer Stil, wie keine frühere Zeit ihn hervorzubringen befähigt war, nud für kleineren Maßstab gruppiren sich um denselben die menschliche Gestalt in ihrer Nacktheit und edlen Gewandung sowie das humoristische Genre, dem als viertes Gebiet endlich das Portrait sich anreiht. Dem Gesagten brauche ich kaum noch hinzuzufügen, daß mir die kolossalen Minerven-, Viktorien- und Kriegergestalten in ihrer sehr abstrakten Verbindung als eine wahrhaft würdige Aufgabe für die lebende Sculptur nicht erscheinen. Ich wundere mich daher anch nicht darüber, daß die meisten Gruppen trotz ihrer zum Theil sehr geschickten, zum Theil selbst geschmackvollen Ausführung ohne Eindruck bleiben, ich bewundere vielmehr die Art, wie es dem Bildhauer Drake gelang, der seinigen dennoch einen fesselnden Inhalt zu geben. Gerade ihm wurde eine Aufgabe zu Theil, welche unter den verbrauchten Themen vielleicht das ver¬ brauchteste ist; er hat die Schlußgruppe auszuführen Viktoria, welche dem Sieger einen Kranz auf das Haupt setzt. Hören Sie nun, wie der Künstler diese Auf¬ gabe löste, und Sie werden mit mir die geistvolle Originalität seines Werkes anerkennen. Drake sucht zunächst das Göttliche seiner Göttin nicht in äußer¬ lichen Hervorragen, sondern im geistigen Ausdruck. Der Krieger ist bei ihm zum Mann geworden. In der selbstbewußten Kraft des Siegers steht er da und schaut mit ernster Aufmerksamkeit im festen Blicke auf den Kampfplatz hin, indem er das Schwert in die Scheide stößt. Die Rechte, welche diese Bewegung aus¬ führt, hat dieselbe noch nicht vollendet, noch ist das Schwert nicht vollständig in die Scheide zurückgekehrt, und die erhobene Haltung der Linken, welche die Scheide dem aufzunehmenden Stahl entgegenführt, scheint anzudeuten, daß noch so eben das spannende Gefühl vorhanden war, als könne etwa der Kampf noch ein¬ mal entbrennen. Ihm naht die Göttin des Sieges. Sie tritt nicht herzu als eine sinnliche Erscheinung, vor der sich der Sieger zu beugen hätte; unbemerkt schwebt sie herau und vorüber und läßt den Eichenkranz auf das Haupt des Helden fallen. Es ist die Siegsgewißheit, die durch den betrachtenden Blick des Kriegers sich in seine Seele senkt, es ist eine gedankenvolle Allegorie, die zwar von antiker Verbildlichnng, wie das Thema mit Nothwendigkeit bedingte, aus¬ geht, aber die antike Tradition durchbricht und eine moderner Empfindung völlig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/378>, abgerufen am 24.07.2024.