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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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trostlose Zustand, den Vilmar's Volksfreund selbst noch im März 1850 (Volksfr.
Ur. 12) ganz richtig als Hauptursache unserer Revolution erkannt und dargestellt
hat; nnr daß die gegenwärtigen Verhältnisse als Potenzirung der vormärzlichen
Zustände sich als noch weit unerträglicher herausstellen, uus mithin -- wenn die
Zeiten sich abermals erfüllt haben werden -- mit einer noch weit gefährlicheren
Katastrophe bedrohen, als die war, die der März von 18-48 über unsern Häup¬
tern heraufgeführt hat. Wir können die Gegenwart nicht treffender charakterisiren,
als Vilmar selbst in der eben citirten Stelle thut; sie möge hier folgen:

"Die Pflicht einer ernsten und patriotischen Presse nöthigt uns zu der Aner¬
kennung, daß das System, welches vou 1838--48 vorherrschend war, die geistigen
Bande des Staatsorganismus tief erschüttert und einen lähmungsartiger Zustand
herbeigeführt hatte, der einer großen Krisis keineswegs gewachsen war. Die
damaligen Räthe des Kurfürsten hatten sich zu einem kleinen Kreis abge¬
schlossen, welcher den Ideen der Zeit dergestalt feindselig entgegen¬
stand, daß ihm selbst das Verständniß dafür zu fehlen schien; das
freie Wort, das gedruckte, wie das der mündlichen Mittheilung war in einer
Weise verstummt, daß die höchsten Staatsbeamten die Zustände
Deutschlands, wie die unsrigen, nur uuter ihrem Prisma sahen und
von der tiefen Erbitterung, die ihre Maßregeln, ihre Gesetzauslegnngen,
ihre Verkümmerung der ständischen Rechte, zuletzt ihre Einwirkung
auf die Justiz in allen Classen der Gesellschaft bei Civil und Militär hervor-
gerufen, keine deutliche Vorstellung hatten. Eine solche bis zur tiefen Erbitterung
steigende Unzufriedenheit kommt in ruhigen Zeiten nicht zur äußern Erscheinung;
wenn aber die Revolution eines großen Nachbarstaates mit Don¬
nerkeilen an die Thore schlägt, dann fühlt man, wie unzureichend
der blos äußere Mechanismus ist; und wenn dann der Zustand der Art
ist, wie er im März 1848 war, so kann man es nicht wagen, der Revolution
einen kräftigen Gegenstoß entgegenzusetzen. Es giebt dagegen nur ein einziges
wahres und wirksames Mittel, es heißt: nicht vorübergehend, sondern fort¬
dauernd gut und gerecht regieren."

Viele Schamlosigkeit und Gemeinheit haben wir in den letzten Jahren er¬
lebt; aber der Mann, welcher vor einem Jahre so schrieb, wie hier geschrieben
steht, und jetzt so handelt, wie er handelt, gehört zu deu schamlosesten und ge¬
meinsten aller gesinnungslosen Politiker der Gegenwart.




trostlose Zustand, den Vilmar's Volksfreund selbst noch im März 1850 (Volksfr.
Ur. 12) ganz richtig als Hauptursache unserer Revolution erkannt und dargestellt
hat; nnr daß die gegenwärtigen Verhältnisse als Potenzirung der vormärzlichen
Zustände sich als noch weit unerträglicher herausstellen, uus mithin — wenn die
Zeiten sich abermals erfüllt haben werden — mit einer noch weit gefährlicheren
Katastrophe bedrohen, als die war, die der März von 18-48 über unsern Häup¬
tern heraufgeführt hat. Wir können die Gegenwart nicht treffender charakterisiren,
als Vilmar selbst in der eben citirten Stelle thut; sie möge hier folgen:

„Die Pflicht einer ernsten und patriotischen Presse nöthigt uns zu der Aner¬
kennung, daß das System, welches vou 1838—48 vorherrschend war, die geistigen
Bande des Staatsorganismus tief erschüttert und einen lähmungsartiger Zustand
herbeigeführt hatte, der einer großen Krisis keineswegs gewachsen war. Die
damaligen Räthe des Kurfürsten hatten sich zu einem kleinen Kreis abge¬
schlossen, welcher den Ideen der Zeit dergestalt feindselig entgegen¬
stand, daß ihm selbst das Verständniß dafür zu fehlen schien; das
freie Wort, das gedruckte, wie das der mündlichen Mittheilung war in einer
Weise verstummt, daß die höchsten Staatsbeamten die Zustände
Deutschlands, wie die unsrigen, nur uuter ihrem Prisma sahen und
von der tiefen Erbitterung, die ihre Maßregeln, ihre Gesetzauslegnngen,
ihre Verkümmerung der ständischen Rechte, zuletzt ihre Einwirkung
auf die Justiz in allen Classen der Gesellschaft bei Civil und Militär hervor-
gerufen, keine deutliche Vorstellung hatten. Eine solche bis zur tiefen Erbitterung
steigende Unzufriedenheit kommt in ruhigen Zeiten nicht zur äußern Erscheinung;
wenn aber die Revolution eines großen Nachbarstaates mit Don¬
nerkeilen an die Thore schlägt, dann fühlt man, wie unzureichend
der blos äußere Mechanismus ist; und wenn dann der Zustand der Art
ist, wie er im März 1848 war, so kann man es nicht wagen, der Revolution
einen kräftigen Gegenstoß entgegenzusetzen. Es giebt dagegen nur ein einziges
wahres und wirksames Mittel, es heißt: nicht vorübergehend, sondern fort¬
dauernd gut und gerecht regieren."

Viele Schamlosigkeit und Gemeinheit haben wir in den letzten Jahren er¬
lebt; aber der Mann, welcher vor einem Jahre so schrieb, wie hier geschrieben
steht, und jetzt so handelt, wie er handelt, gehört zu deu schamlosesten und ge¬
meinsten aller gesinnungslosen Politiker der Gegenwart.




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[0361] trostlose Zustand, den Vilmar's Volksfreund selbst noch im März 1850 (Volksfr. Ur. 12) ganz richtig als Hauptursache unserer Revolution erkannt und dargestellt hat; nnr daß die gegenwärtigen Verhältnisse als Potenzirung der vormärzlichen Zustände sich als noch weit unerträglicher herausstellen, uus mithin — wenn die Zeiten sich abermals erfüllt haben werden — mit einer noch weit gefährlicheren Katastrophe bedrohen, als die war, die der März von 18-48 über unsern Häup¬ tern heraufgeführt hat. Wir können die Gegenwart nicht treffender charakterisiren, als Vilmar selbst in der eben citirten Stelle thut; sie möge hier folgen: „Die Pflicht einer ernsten und patriotischen Presse nöthigt uns zu der Aner¬ kennung, daß das System, welches vou 1838—48 vorherrschend war, die geistigen Bande des Staatsorganismus tief erschüttert und einen lähmungsartiger Zustand herbeigeführt hatte, der einer großen Krisis keineswegs gewachsen war. Die damaligen Räthe des Kurfürsten hatten sich zu einem kleinen Kreis abge¬ schlossen, welcher den Ideen der Zeit dergestalt feindselig entgegen¬ stand, daß ihm selbst das Verständniß dafür zu fehlen schien; das freie Wort, das gedruckte, wie das der mündlichen Mittheilung war in einer Weise verstummt, daß die höchsten Staatsbeamten die Zustände Deutschlands, wie die unsrigen, nur uuter ihrem Prisma sahen und von der tiefen Erbitterung, die ihre Maßregeln, ihre Gesetzauslegnngen, ihre Verkümmerung der ständischen Rechte, zuletzt ihre Einwirkung auf die Justiz in allen Classen der Gesellschaft bei Civil und Militär hervor- gerufen, keine deutliche Vorstellung hatten. Eine solche bis zur tiefen Erbitterung steigende Unzufriedenheit kommt in ruhigen Zeiten nicht zur äußern Erscheinung; wenn aber die Revolution eines großen Nachbarstaates mit Don¬ nerkeilen an die Thore schlägt, dann fühlt man, wie unzureichend der blos äußere Mechanismus ist; und wenn dann der Zustand der Art ist, wie er im März 1848 war, so kann man es nicht wagen, der Revolution einen kräftigen Gegenstoß entgegenzusetzen. Es giebt dagegen nur ein einziges wahres und wirksames Mittel, es heißt: nicht vorübergehend, sondern fort¬ dauernd gut und gerecht regieren." Viele Schamlosigkeit und Gemeinheit haben wir in den letzten Jahren er¬ lebt; aber der Mann, welcher vor einem Jahre so schrieb, wie hier geschrieben steht, und jetzt so handelt, wie er handelt, gehört zu deu schamlosesten und ge¬ meinsten aller gesinnungslosen Politiker der Gegenwart.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/361>, abgerufen am 28.06.2024.