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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Unbedingt ist diese spätere Reaction gegen seine ursprüngliche musikalische
Richtung keineswegs ein Zeichen höherer Begabung. Wie viel sich ans der italie¬
nischen Schule machen läßt, hat Rossini gezeigt, der zwar allen seinen Neben¬
buhlern unendlich überlegen ist, sich aber in der Art und Weise von ihnen nicht
wesentlich unterscheidet. Um in jener leichtsinnigen Form zu wirken, muß eine
Liebenswürdigkeit und Fülle der Melodieen vorhanden sein, die uns den leeren Me¬
chanismus der Harmonie vergessen läßt. Eine Reaction gegen diesen Mechanis¬
mus kann ebensowohl aus dem Gefühl eines innern Mangels, als ans einer
höhern Einsicht in das Wesen der Kunst hervorgehen. Spontini gehörte nicht zu
jenen Talenten, denen die Melodieen ungesucht von den Lippen strömen; es war
natürlich, daß er zur Reflexion griff, aber es ist sein Verdienst, daß diese Reflexion
der Kunst eine neue Bahn gebrochen hat. Mit Gluck war es übrigeus ungefähr
der nämliche Fall.

Gluck's Werke waren es, die unserm Künstler die Angen öffneten. Er lernte
sie erst in Paris kennen. Es waren ungefähr dreißig Jahre verflossen, daß sie
in Paris jenen gewaltigen Sturm erregt hatten, der sich nnn in einer andern
Form erneuern sollte. (Glück's Iphigenie war 1774, seine Armide 1777 auf¬
geführt worden; sein Hauptgeguer Piccini war 1776 uach Paris gekommen.
Gluck's Tod sällt ins Jahr 1787 - dasselbe Jahr, in welchem Mozart seinen
Don Juan aufführte). Neben Gluck waren es vorzugsweise Cherubim und
Me^hul, die, damals in ihrer Blüthezeit, auf seiue Richtung einen wesentlichen
Einfluß ausübten. Dagegen ist ihm die deutsche Musik vollkommen fremd ge¬
blieben; noch war nicht die Zeit gekommen, wo Beethoven in der hoher gebilde¬
ten musikalischen Gesellschaft in Paris alle seine Nebenbuhler verdrängte.

Das Princip, welches Glück in die Musik eingeführt hat, welches aber noch
hente weit entfernt ist, zur Herrschaft durchgedrungen zu sein, beruht vor Allem
auf zwei Neuerungen. Beide hat Spontini adoptirt.

Einmal soll der dramatische Theil der Oper nicht bloß das Geländer bilden,
an welches man die lyrischen Blumen der Tonkunst nach Belieben, wie sinnige
Arabesken, einflechten darf, sondern die Musik soll der adäquate Ausdruck der
dramatischen Stimmung sein; Beides soll sich vollständig einander entsprechen. Wir
Deutsche sind an das musikalische Charakterisircu so gewöhnt, daß uns diese Idee
trivial erscheinen wird. Mozart hat uicht allein die jedesmalige dramatische Stim¬
mung, sondern auch die einzelnen Figuren so im Detail charakterisiert -- eine
Aufgabe, die sich Gluck nie gestellt hat -- daß seiue Opern in diesem Punkt
dem recitirenden Schauspiel vollkommen ebenbürtig sind. Das läßt sich ins
Unendliche treiben. Schon Weber hat seine Malerei bis auf einzelne Bilder, die
in dem Gespräch vorkommen, erstreckt; nenerdings zeichnet man das Schütteln
des Würfelbechers und das Anzünden des Feuers. Wo die Charakterisirung so
ins Detail eingeht, hört ihr eigentlicher Zweck ans. Was uns Deutsche aber


Unbedingt ist diese spätere Reaction gegen seine ursprüngliche musikalische
Richtung keineswegs ein Zeichen höherer Begabung. Wie viel sich ans der italie¬
nischen Schule machen läßt, hat Rossini gezeigt, der zwar allen seinen Neben¬
buhlern unendlich überlegen ist, sich aber in der Art und Weise von ihnen nicht
wesentlich unterscheidet. Um in jener leichtsinnigen Form zu wirken, muß eine
Liebenswürdigkeit und Fülle der Melodieen vorhanden sein, die uns den leeren Me¬
chanismus der Harmonie vergessen läßt. Eine Reaction gegen diesen Mechanis¬
mus kann ebensowohl aus dem Gefühl eines innern Mangels, als ans einer
höhern Einsicht in das Wesen der Kunst hervorgehen. Spontini gehörte nicht zu
jenen Talenten, denen die Melodieen ungesucht von den Lippen strömen; es war
natürlich, daß er zur Reflexion griff, aber es ist sein Verdienst, daß diese Reflexion
der Kunst eine neue Bahn gebrochen hat. Mit Gluck war es übrigeus ungefähr
der nämliche Fall.

Gluck's Werke waren es, die unserm Künstler die Angen öffneten. Er lernte
sie erst in Paris kennen. Es waren ungefähr dreißig Jahre verflossen, daß sie
in Paris jenen gewaltigen Sturm erregt hatten, der sich nnn in einer andern
Form erneuern sollte. (Glück's Iphigenie war 1774, seine Armide 1777 auf¬
geführt worden; sein Hauptgeguer Piccini war 1776 uach Paris gekommen.
Gluck's Tod sällt ins Jahr 1787 - dasselbe Jahr, in welchem Mozart seinen
Don Juan aufführte). Neben Gluck waren es vorzugsweise Cherubim und
Me^hul, die, damals in ihrer Blüthezeit, auf seiue Richtung einen wesentlichen
Einfluß ausübten. Dagegen ist ihm die deutsche Musik vollkommen fremd ge¬
blieben; noch war nicht die Zeit gekommen, wo Beethoven in der hoher gebilde¬
ten musikalischen Gesellschaft in Paris alle seine Nebenbuhler verdrängte.

Das Princip, welches Glück in die Musik eingeführt hat, welches aber noch
hente weit entfernt ist, zur Herrschaft durchgedrungen zu sein, beruht vor Allem
auf zwei Neuerungen. Beide hat Spontini adoptirt.

Einmal soll der dramatische Theil der Oper nicht bloß das Geländer bilden,
an welches man die lyrischen Blumen der Tonkunst nach Belieben, wie sinnige
Arabesken, einflechten darf, sondern die Musik soll der adäquate Ausdruck der
dramatischen Stimmung sein; Beides soll sich vollständig einander entsprechen. Wir
Deutsche sind an das musikalische Charakterisircu so gewöhnt, daß uns diese Idee
trivial erscheinen wird. Mozart hat uicht allein die jedesmalige dramatische Stim¬
mung, sondern auch die einzelnen Figuren so im Detail charakterisiert — eine
Aufgabe, die sich Gluck nie gestellt hat — daß seiue Opern in diesem Punkt
dem recitirenden Schauspiel vollkommen ebenbürtig sind. Das läßt sich ins
Unendliche treiben. Schon Weber hat seine Malerei bis auf einzelne Bilder, die
in dem Gespräch vorkommen, erstreckt; nenerdings zeichnet man das Schütteln
des Würfelbechers und das Anzünden des Feuers. Wo die Charakterisirung so
ins Detail eingeht, hört ihr eigentlicher Zweck ans. Was uns Deutsche aber


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[0307] Unbedingt ist diese spätere Reaction gegen seine ursprüngliche musikalische Richtung keineswegs ein Zeichen höherer Begabung. Wie viel sich ans der italie¬ nischen Schule machen läßt, hat Rossini gezeigt, der zwar allen seinen Neben¬ buhlern unendlich überlegen ist, sich aber in der Art und Weise von ihnen nicht wesentlich unterscheidet. Um in jener leichtsinnigen Form zu wirken, muß eine Liebenswürdigkeit und Fülle der Melodieen vorhanden sein, die uns den leeren Me¬ chanismus der Harmonie vergessen läßt. Eine Reaction gegen diesen Mechanis¬ mus kann ebensowohl aus dem Gefühl eines innern Mangels, als ans einer höhern Einsicht in das Wesen der Kunst hervorgehen. Spontini gehörte nicht zu jenen Talenten, denen die Melodieen ungesucht von den Lippen strömen; es war natürlich, daß er zur Reflexion griff, aber es ist sein Verdienst, daß diese Reflexion der Kunst eine neue Bahn gebrochen hat. Mit Gluck war es übrigeus ungefähr der nämliche Fall. Gluck's Werke waren es, die unserm Künstler die Angen öffneten. Er lernte sie erst in Paris kennen. Es waren ungefähr dreißig Jahre verflossen, daß sie in Paris jenen gewaltigen Sturm erregt hatten, der sich nnn in einer andern Form erneuern sollte. (Glück's Iphigenie war 1774, seine Armide 1777 auf¬ geführt worden; sein Hauptgeguer Piccini war 1776 uach Paris gekommen. Gluck's Tod sällt ins Jahr 1787 - dasselbe Jahr, in welchem Mozart seinen Don Juan aufführte). Neben Gluck waren es vorzugsweise Cherubim und Me^hul, die, damals in ihrer Blüthezeit, auf seiue Richtung einen wesentlichen Einfluß ausübten. Dagegen ist ihm die deutsche Musik vollkommen fremd ge¬ blieben; noch war nicht die Zeit gekommen, wo Beethoven in der hoher gebilde¬ ten musikalischen Gesellschaft in Paris alle seine Nebenbuhler verdrängte. Das Princip, welches Glück in die Musik eingeführt hat, welches aber noch hente weit entfernt ist, zur Herrschaft durchgedrungen zu sein, beruht vor Allem auf zwei Neuerungen. Beide hat Spontini adoptirt. Einmal soll der dramatische Theil der Oper nicht bloß das Geländer bilden, an welches man die lyrischen Blumen der Tonkunst nach Belieben, wie sinnige Arabesken, einflechten darf, sondern die Musik soll der adäquate Ausdruck der dramatischen Stimmung sein; Beides soll sich vollständig einander entsprechen. Wir Deutsche sind an das musikalische Charakterisircu so gewöhnt, daß uns diese Idee trivial erscheinen wird. Mozart hat uicht allein die jedesmalige dramatische Stim¬ mung, sondern auch die einzelnen Figuren so im Detail charakterisiert — eine Aufgabe, die sich Gluck nie gestellt hat — daß seiue Opern in diesem Punkt dem recitirenden Schauspiel vollkommen ebenbürtig sind. Das läßt sich ins Unendliche treiben. Schon Weber hat seine Malerei bis auf einzelne Bilder, die in dem Gespräch vorkommen, erstreckt; nenerdings zeichnet man das Schütteln des Würfelbechers und das Anzünden des Feuers. Wo die Charakterisirung so ins Detail eingeht, hört ihr eigentlicher Zweck ans. Was uns Deutsche aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/307>, abgerufen am 28.06.2024.