Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.auf den Hals wirft, z. B. Raub der Gattin, Entehrung der Tochter u. f. w., und Ich knüpfe daran eine beiläufige Bemerkung. Schauspieler von einem sehr Das zweite Moment, worauf man bei den sogenannten Volksdramen seine auf den Hals wirft, z. B. Raub der Gattin, Entehrung der Tochter u. f. w., und Ich knüpfe daran eine beiläufige Bemerkung. Schauspieler von einem sehr Das zweite Moment, worauf man bei den sogenannten Volksdramen seine <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0249" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/91987"/> <p xml:id="ID_772" prev="#ID_771"> auf den Hals wirft, z. B. Raub der Gattin, Entehrung der Tochter u. f. w., und<lb/> der daher mit einem Fuß im Gebiet des Schrecklichen steht, während der andere<lb/> im Lustspiel groteske Pirouetten schlägt. Diese Figur des thränenreichen Paillasse<lb/> ist also bei der neuen Romantik, die von der Poesie des Contrastes ausgeht,<lb/> oder, wenn wir es technisch ausdrücken wollen, von der Virtuosität im Ausdruck<lb/> greller Gefühlssprüuge, die beliebteste, und die Familie ist trotz der kurzen Zeit<lb/> ihres Bestehens so zahlreich wie der Sand am Meer. Der Vater derselben ist<lb/> Victor Hugo's Tribonlet, der bucklige Hofnarr Franz des Ersten, der den ganzen<lb/> Reichthum seiner Empfindungen auf die Liebe zu seiner Tochter concentrirt (gerade<lb/> wie Hau der Isländer, Lucretia Borgia, Marion de Lorme, Marie Tudor, Tishe<lb/> im Angelo Malipieri, Quastmodo u. s. w.), dem diese Tochter zuerst entehrt, dann<lb/> ermordet wird, und dessen Herzschlag zuletzt so gewaltig ist, daß er sich auf den<lb/> Kopf stellen und mit den Füßen in der Luft Triller schlagen muß, um uur<lb/> einigermaßen das Gleichgewicht herzustellen. Von diesem Tribonlet ist Paillasse<lb/> ein schwacher Abklatsch.</p><lb/> <p xml:id="ID_773"> Ich knüpfe daran eine beiläufige Bemerkung. Schauspieler von einem sehr<lb/> großen Talent ohne die nöthige Ehrfurcht vor der Kunst, welche den Ausbrüchen<lb/> dieses Talents allein Grenze und Form geben kann, sind sehr gefährlich gerade<lb/> in einer Phase der dramatischen Kunst, wo die Bühne den Ausschlag gibt. Die<lb/> übrigen Personen sinken neben ihm bald zu der Rolle von Statisten herab. —<lb/> So ist es, freilich in einem viel höhern Genre, mit der Rachel der Fall. Die<lb/> Adrienne Lecouvreur, welche Scribe ausdrücklich für sie geschrieben hat, enthält<lb/> alle die Contraste vollständig vorbereitet und appretirt, welche die dämonische<lb/> Künstlerin in die alten Classiker erst hineinarbeiten muß. Darstellende Künstler<lb/> hinterlassen in der Regel kein Denkmal ihres Wirkens; von der Rachel dagegen<lb/> wird man sich in späteren Jahren ein treffendes Bild machen können, wenn man<lb/> die Adrienne liest. — Nun wird es Scribe — dessen Verdienst mau erst recht<lb/> würdigt, wenn man solche pöbelhaste Zugstücke daneben hält - niemals begegnen,<lb/> daß er, um recht gräßlich zu werdeu, in Albernheiten verfällt; die Grazie seines<lb/> Talents verläßt ihn uicht, auch wenn er es zum unedlen Dienst des Virtuosen-<lb/> thums mißbraucht; aber die dramatische Einheit geht doch darüber verloren. —</p><lb/> <p xml:id="ID_774" next="#ID_775"> Das zweite Moment, worauf man bei den sogenannten Volksdramen seine<lb/> Aufmerksamkeit richten muß, ist die angeblich demokratische, eigentlich aber dema¬<lb/> gogische Richtung der modernen Literatur. — Die Herren Eugen Tue, Felir<lb/> Pyat u. s. w., die ja jetzt auch im Parlament zu den Wortführern der sociali¬<lb/> stischen Partei gehören, versäumen es nie, als Aushängeschild ihrer Greuelstücke<lb/> die Hebung der gedrückten Volksclassen aufzustecken. Zunächst sind Lumpensammler,<lb/> herumziehende Gaukler, betrunkene Proletarier n. f. w. ihre Helden, dann aber<lb/> Freudenmädchen, Diebe, Mörder. Die reichen Leute sollen einmal sehen, wie<lb/> vielen Versuchungen die Armuth ausgesetzt ist, und sie demnach nachsichtiger deur-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0249]
auf den Hals wirft, z. B. Raub der Gattin, Entehrung der Tochter u. f. w., und
der daher mit einem Fuß im Gebiet des Schrecklichen steht, während der andere
im Lustspiel groteske Pirouetten schlägt. Diese Figur des thränenreichen Paillasse
ist also bei der neuen Romantik, die von der Poesie des Contrastes ausgeht,
oder, wenn wir es technisch ausdrücken wollen, von der Virtuosität im Ausdruck
greller Gefühlssprüuge, die beliebteste, und die Familie ist trotz der kurzen Zeit
ihres Bestehens so zahlreich wie der Sand am Meer. Der Vater derselben ist
Victor Hugo's Tribonlet, der bucklige Hofnarr Franz des Ersten, der den ganzen
Reichthum seiner Empfindungen auf die Liebe zu seiner Tochter concentrirt (gerade
wie Hau der Isländer, Lucretia Borgia, Marion de Lorme, Marie Tudor, Tishe
im Angelo Malipieri, Quastmodo u. s. w.), dem diese Tochter zuerst entehrt, dann
ermordet wird, und dessen Herzschlag zuletzt so gewaltig ist, daß er sich auf den
Kopf stellen und mit den Füßen in der Luft Triller schlagen muß, um uur
einigermaßen das Gleichgewicht herzustellen. Von diesem Tribonlet ist Paillasse
ein schwacher Abklatsch.
Ich knüpfe daran eine beiläufige Bemerkung. Schauspieler von einem sehr
großen Talent ohne die nöthige Ehrfurcht vor der Kunst, welche den Ausbrüchen
dieses Talents allein Grenze und Form geben kann, sind sehr gefährlich gerade
in einer Phase der dramatischen Kunst, wo die Bühne den Ausschlag gibt. Die
übrigen Personen sinken neben ihm bald zu der Rolle von Statisten herab. —
So ist es, freilich in einem viel höhern Genre, mit der Rachel der Fall. Die
Adrienne Lecouvreur, welche Scribe ausdrücklich für sie geschrieben hat, enthält
alle die Contraste vollständig vorbereitet und appretirt, welche die dämonische
Künstlerin in die alten Classiker erst hineinarbeiten muß. Darstellende Künstler
hinterlassen in der Regel kein Denkmal ihres Wirkens; von der Rachel dagegen
wird man sich in späteren Jahren ein treffendes Bild machen können, wenn man
die Adrienne liest. — Nun wird es Scribe — dessen Verdienst mau erst recht
würdigt, wenn man solche pöbelhaste Zugstücke daneben hält - niemals begegnen,
daß er, um recht gräßlich zu werdeu, in Albernheiten verfällt; die Grazie seines
Talents verläßt ihn uicht, auch wenn er es zum unedlen Dienst des Virtuosen-
thums mißbraucht; aber die dramatische Einheit geht doch darüber verloren. —
Das zweite Moment, worauf man bei den sogenannten Volksdramen seine
Aufmerksamkeit richten muß, ist die angeblich demokratische, eigentlich aber dema¬
gogische Richtung der modernen Literatur. — Die Herren Eugen Tue, Felir
Pyat u. s. w., die ja jetzt auch im Parlament zu den Wortführern der sociali¬
stischen Partei gehören, versäumen es nie, als Aushängeschild ihrer Greuelstücke
die Hebung der gedrückten Volksclassen aufzustecken. Zunächst sind Lumpensammler,
herumziehende Gaukler, betrunkene Proletarier n. f. w. ihre Helden, dann aber
Freudenmädchen, Diebe, Mörder. Die reichen Leute sollen einmal sehen, wie
vielen Versuchungen die Armuth ausgesetzt ist, und sie demnach nachsichtiger deur-
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