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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Hai einige Regeln für die Schauspieler hinterlassen, über deren anscheinende Pedan¬
terie ich manchmal gelacht habe, z. B. mit sehr fetten Lettern: man soll das B nicht
mit dem P verwechseln u. s. w., aber der erste Blick auf unser heutiges Theater muß
uns überzeugen, daß auch darin der alte Herr sehr Recht gehabt hat. Ein
Publicum, dem man es ungestraft bieten darf, in einer Tragödie von Dyrannen,
vom Scheine, vom Klauben (se. Glauben), von Gefielen, vom Babst, von Lüde:c.
zu reden, und das noch dazu bald mit sächsischer, bald mit bairischer, bald mit
Berliner Modulation, bald mit polnischem Accent -- ein solches Publicum verwirkt
das Recht, an den Dichter oder Darsteller noch Ansprüche zu machen. Denn
wenn einer noch im Buchstabiren nicht fest ist, so ist es thöricht, auf die höhere
Kunst des Vorlesens bei ihm zu reflectiren.

Der Rohheit der Darstellung entspricht denn anch die Rohheit dessen, was
die Dichter liefern. Eine graciöse Sprache, ein feiner Dialog, Charakterzüge, die
sich nicht in wüsten Ungebärdigkeiten ausdrücken, werden gar nicht mehr empfun¬
den. Eine gigantische Kraft wie Shakespeare wird sich freilich zu allen Zeiten
Bahn brechen, aber der Dichter des Tasso und der Iphigenie hätte heute einen
schwerern Stand, als vor 50 Jahren.

Das Stück, welches uns zu diesen Bemerkungen veranlaßt, ist der von
H. Marr ans dem Französischen übersetzte Bajazzo. Diese Tragikomödie ist,
wie wir bereits in einem frühern Bericht erwähnten, von Dennery und Marc
Fournier für das IdeawL ac 1a Kalte und namentlich für den berühmten Charakter¬
darsteller Frvdvric LemaUre geschrieben, und hat in Paris, aber allerdings nicht
eben bei dem feinsten Publicum, einen bedeutenden Erfolg gehabt. Die deutscheu
Theater, auch die Hofbühuen, scheinen es nach der Reihe aufführen zu wollen.

Das Stück gehört in das bekannte Genre, welches durch "Anna Marie oder
eine Mutter ans dem Volk", durch deu "Lnmpeusammler", die dramatistrten
"Mysterien von Paris" u. s. w. repräsentirt wird. Man muß in der Bestim¬
mung dieses Genre zwei Seiten im Auge behalten.

Einmal sind derartige Stücke auf Virtuosen berechnet, die nach allen
Seiten hin gewisse technische Fertigkeiten haben und dieselben in jeder Rolle gleich¬
zeitig verwerthen möchten. Da die eigentliche Tragödie so wie das eigentliche Lustspiel
einen gehaltenen Ton erfordert, so ist für diese Sorte die Tragikomödie erfunden.
Thränen der Seligkeit und verzweifeltes Teufelsgelächter, dämonische Bosheit und
aufopfernde Liebe, neben diesen allgemeinen Gegensätzen noch Betrunkenheitsscenen,
Hungertod, Fieberwahnsinn ze., tels sind die nothwendigen Ingredienzien, aus denen
ein solcher Ragout bereitet wird. Zu der harmonischen Vereinigung derselben
gibt es keinen besseren Träger, als einen Hanswurst, der zugleich Familienvater
ist; der also durch seinen Beruf getrieben ist, fortwährend lustige Grimassen zu
schneiden, während sein Herz innerlich blutet über die Schwindsucht seines Weibes,
den Hunger seiner Kinder und sonstige Greuel, die ihm ein schadenfrohes Schicksal


Hai einige Regeln für die Schauspieler hinterlassen, über deren anscheinende Pedan¬
terie ich manchmal gelacht habe, z. B. mit sehr fetten Lettern: man soll das B nicht
mit dem P verwechseln u. s. w., aber der erste Blick auf unser heutiges Theater muß
uns überzeugen, daß auch darin der alte Herr sehr Recht gehabt hat. Ein
Publicum, dem man es ungestraft bieten darf, in einer Tragödie von Dyrannen,
vom Scheine, vom Klauben (se. Glauben), von Gefielen, vom Babst, von Lüde:c.
zu reden, und das noch dazu bald mit sächsischer, bald mit bairischer, bald mit
Berliner Modulation, bald mit polnischem Accent — ein solches Publicum verwirkt
das Recht, an den Dichter oder Darsteller noch Ansprüche zu machen. Denn
wenn einer noch im Buchstabiren nicht fest ist, so ist es thöricht, auf die höhere
Kunst des Vorlesens bei ihm zu reflectiren.

Der Rohheit der Darstellung entspricht denn anch die Rohheit dessen, was
die Dichter liefern. Eine graciöse Sprache, ein feiner Dialog, Charakterzüge, die
sich nicht in wüsten Ungebärdigkeiten ausdrücken, werden gar nicht mehr empfun¬
den. Eine gigantische Kraft wie Shakespeare wird sich freilich zu allen Zeiten
Bahn brechen, aber der Dichter des Tasso und der Iphigenie hätte heute einen
schwerern Stand, als vor 50 Jahren.

Das Stück, welches uns zu diesen Bemerkungen veranlaßt, ist der von
H. Marr ans dem Französischen übersetzte Bajazzo. Diese Tragikomödie ist,
wie wir bereits in einem frühern Bericht erwähnten, von Dennery und Marc
Fournier für das IdeawL ac 1a Kalte und namentlich für den berühmten Charakter¬
darsteller Frvdvric LemaUre geschrieben, und hat in Paris, aber allerdings nicht
eben bei dem feinsten Publicum, einen bedeutenden Erfolg gehabt. Die deutscheu
Theater, auch die Hofbühuen, scheinen es nach der Reihe aufführen zu wollen.

Das Stück gehört in das bekannte Genre, welches durch „Anna Marie oder
eine Mutter ans dem Volk", durch deu „Lnmpeusammler", die dramatistrten
„Mysterien von Paris" u. s. w. repräsentirt wird. Man muß in der Bestim¬
mung dieses Genre zwei Seiten im Auge behalten.

Einmal sind derartige Stücke auf Virtuosen berechnet, die nach allen
Seiten hin gewisse technische Fertigkeiten haben und dieselben in jeder Rolle gleich¬
zeitig verwerthen möchten. Da die eigentliche Tragödie so wie das eigentliche Lustspiel
einen gehaltenen Ton erfordert, so ist für diese Sorte die Tragikomödie erfunden.
Thränen der Seligkeit und verzweifeltes Teufelsgelächter, dämonische Bosheit und
aufopfernde Liebe, neben diesen allgemeinen Gegensätzen noch Betrunkenheitsscenen,
Hungertod, Fieberwahnsinn ze., tels sind die nothwendigen Ingredienzien, aus denen
ein solcher Ragout bereitet wird. Zu der harmonischen Vereinigung derselben
gibt es keinen besseren Träger, als einen Hanswurst, der zugleich Familienvater
ist; der also durch seinen Beruf getrieben ist, fortwährend lustige Grimassen zu
schneiden, während sein Herz innerlich blutet über die Schwindsucht seines Weibes,
den Hunger seiner Kinder und sonstige Greuel, die ihm ein schadenfrohes Schicksal


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[0248] Hai einige Regeln für die Schauspieler hinterlassen, über deren anscheinende Pedan¬ terie ich manchmal gelacht habe, z. B. mit sehr fetten Lettern: man soll das B nicht mit dem P verwechseln u. s. w., aber der erste Blick auf unser heutiges Theater muß uns überzeugen, daß auch darin der alte Herr sehr Recht gehabt hat. Ein Publicum, dem man es ungestraft bieten darf, in einer Tragödie von Dyrannen, vom Scheine, vom Klauben (se. Glauben), von Gefielen, vom Babst, von Lüde:c. zu reden, und das noch dazu bald mit sächsischer, bald mit bairischer, bald mit Berliner Modulation, bald mit polnischem Accent — ein solches Publicum verwirkt das Recht, an den Dichter oder Darsteller noch Ansprüche zu machen. Denn wenn einer noch im Buchstabiren nicht fest ist, so ist es thöricht, auf die höhere Kunst des Vorlesens bei ihm zu reflectiren. Der Rohheit der Darstellung entspricht denn anch die Rohheit dessen, was die Dichter liefern. Eine graciöse Sprache, ein feiner Dialog, Charakterzüge, die sich nicht in wüsten Ungebärdigkeiten ausdrücken, werden gar nicht mehr empfun¬ den. Eine gigantische Kraft wie Shakespeare wird sich freilich zu allen Zeiten Bahn brechen, aber der Dichter des Tasso und der Iphigenie hätte heute einen schwerern Stand, als vor 50 Jahren. Das Stück, welches uns zu diesen Bemerkungen veranlaßt, ist der von H. Marr ans dem Französischen übersetzte Bajazzo. Diese Tragikomödie ist, wie wir bereits in einem frühern Bericht erwähnten, von Dennery und Marc Fournier für das IdeawL ac 1a Kalte und namentlich für den berühmten Charakter¬ darsteller Frvdvric LemaUre geschrieben, und hat in Paris, aber allerdings nicht eben bei dem feinsten Publicum, einen bedeutenden Erfolg gehabt. Die deutscheu Theater, auch die Hofbühuen, scheinen es nach der Reihe aufführen zu wollen. Das Stück gehört in das bekannte Genre, welches durch „Anna Marie oder eine Mutter ans dem Volk", durch deu „Lnmpeusammler", die dramatistrten „Mysterien von Paris" u. s. w. repräsentirt wird. Man muß in der Bestim¬ mung dieses Genre zwei Seiten im Auge behalten. Einmal sind derartige Stücke auf Virtuosen berechnet, die nach allen Seiten hin gewisse technische Fertigkeiten haben und dieselben in jeder Rolle gleich¬ zeitig verwerthen möchten. Da die eigentliche Tragödie so wie das eigentliche Lustspiel einen gehaltenen Ton erfordert, so ist für diese Sorte die Tragikomödie erfunden. Thränen der Seligkeit und verzweifeltes Teufelsgelächter, dämonische Bosheit und aufopfernde Liebe, neben diesen allgemeinen Gegensätzen noch Betrunkenheitsscenen, Hungertod, Fieberwahnsinn ze., tels sind die nothwendigen Ingredienzien, aus denen ein solcher Ragout bereitet wird. Zu der harmonischen Vereinigung derselben gibt es keinen besseren Träger, als einen Hanswurst, der zugleich Familienvater ist; der also durch seinen Beruf getrieben ist, fortwährend lustige Grimassen zu schneiden, während sein Herz innerlich blutet über die Schwindsucht seines Weibes, den Hunger seiner Kinder und sonstige Greuel, die ihm ein schadenfrohes Schicksal

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/248>, abgerufen am 29.06.2024.