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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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und wandelbar ist, blos nach der Logik zu regeln. Die offenbare Unvollkommen-
heit der menschlichen Dinge macht das Gesetz in den Augen der wahrhaft poli¬
tischen Völker zu einer heiligen Sache; und das Gesetz ist ihnen heilig, weil es ihnen
das Nothwendige, das Gerechte, das Vollkommene ist. Will man durch eine Reihe
kleiner Gesetze, die sich widersprechet! und ausheben, das traditionell in den Sitten
eingewurzelte Gesetz ersetzen, so gibt es kein Gesetz mehr, denn dieses vergebliche
Suchen nach einem Absoluten, das uns beständig flieht, vernichtet das Rechts¬
gefühl. Deshalb verändern anch die politischen Nationen ihre Gesetze so wenig
als möglich; sie wissen, daß ein umgemodeltes Gesetz ein geschwächtes Gesetz ist,
und daß bei der Schwächung des Gesetzes die Menschheit selbst verliert. Sogar
Bentham hat mit seiner politischen Philosophie keinen Anklang in England ge¬
funden.

Diesen politischen Sinn zeigten die Engländer, als es sich um die Veröffent-
lichung ihrer Parlamentsdebatten handelte. Wollte man logisch sein, so mußte von
zwei kostbaren Privilegien, dem des Parlaments und dem der Preßfreiheit, eins
geopfert werden. Sollte man die Privilegien des Unterhauses vernichten, die
Nationalvertretnng verletzen und das Bollwerk der Volksfreiheit schwächen?
Oder sollte man dem Unterhaus nachgeben, und damit die Preßfreiheit opfern,
die politischen Debatten in Geheimniß hüllen und der schlimmsten aller Ty¬
ranneien, der parlamentarischen, verfallen? Man fand aus dieser Sackgasse einen
Ausgang, der vor den Augen der strengen Logik freilich keine Gnade finden wird.
Das Publicum bewies dem Parlament, daß es unterliegen müsse, wenn es im
Kampfe beharre; aber es hütete sich wohl, es wirklich zu schlagen, und ließ ihm
als Trost für die versteckte Niederlage seine Privilegien. Das Unterhaus, zu¬
friedengestellt auf dem Papier, begnügte sich damit und that wohl daran; das
Gesetz blieb unverändert, die Presse veröffentlichte unbehindert die Debatten, und
der in formeller Hinsicht gesetzwidrige Brauch schlug so tiefe Wurzeln, daß die
Abschaffung des parlamentarischen Privilegiums jetzt Niemand mehr auffallen würde.

Der politische Takt, der praktische Sinn des Engländers hatte alle die
Schwierigkeit gelöst; und die Gelehrten und die Theoretiker verloren kein Wort
darüber. Der gewissenhafte Samuel Johnson, der sich zwischen der Liebe für die
Preßfreiheit und der Achtung vor der Presse befand, wie Bnridan's Esel zwischen
den zwei Heubündeln, half sich durch eine schönklingende Phrase ans der Ver¬
legenheit. "Aus der Gefahr, die eine unbeschränkte Preßfreiheit mit sich führt,
und aus der andern Gefahr, welche mit dem Wunsche, die Presse zu beschränken,
verbunden ist, entsteht ein großes Problem, welches der menschliche Verstand zu
lösen außer Stande zu sein scheint." So sprach der erste englische Moralphilo¬
soph damaliger Zeit.

Der menschliche Verstand hat das Problem auch nicht gelöst; aber wohl die
verständige Praxis des Lebens. Wie sich von selbst versteht, zeigten sich die Ge-


und wandelbar ist, blos nach der Logik zu regeln. Die offenbare Unvollkommen-
heit der menschlichen Dinge macht das Gesetz in den Augen der wahrhaft poli¬
tischen Völker zu einer heiligen Sache; und das Gesetz ist ihnen heilig, weil es ihnen
das Nothwendige, das Gerechte, das Vollkommene ist. Will man durch eine Reihe
kleiner Gesetze, die sich widersprechet! und ausheben, das traditionell in den Sitten
eingewurzelte Gesetz ersetzen, so gibt es kein Gesetz mehr, denn dieses vergebliche
Suchen nach einem Absoluten, das uns beständig flieht, vernichtet das Rechts¬
gefühl. Deshalb verändern anch die politischen Nationen ihre Gesetze so wenig
als möglich; sie wissen, daß ein umgemodeltes Gesetz ein geschwächtes Gesetz ist,
und daß bei der Schwächung des Gesetzes die Menschheit selbst verliert. Sogar
Bentham hat mit seiner politischen Philosophie keinen Anklang in England ge¬
funden.

Diesen politischen Sinn zeigten die Engländer, als es sich um die Veröffent-
lichung ihrer Parlamentsdebatten handelte. Wollte man logisch sein, so mußte von
zwei kostbaren Privilegien, dem des Parlaments und dem der Preßfreiheit, eins
geopfert werden. Sollte man die Privilegien des Unterhauses vernichten, die
Nationalvertretnng verletzen und das Bollwerk der Volksfreiheit schwächen?
Oder sollte man dem Unterhaus nachgeben, und damit die Preßfreiheit opfern,
die politischen Debatten in Geheimniß hüllen und der schlimmsten aller Ty¬
ranneien, der parlamentarischen, verfallen? Man fand aus dieser Sackgasse einen
Ausgang, der vor den Augen der strengen Logik freilich keine Gnade finden wird.
Das Publicum bewies dem Parlament, daß es unterliegen müsse, wenn es im
Kampfe beharre; aber es hütete sich wohl, es wirklich zu schlagen, und ließ ihm
als Trost für die versteckte Niederlage seine Privilegien. Das Unterhaus, zu¬
friedengestellt auf dem Papier, begnügte sich damit und that wohl daran; das
Gesetz blieb unverändert, die Presse veröffentlichte unbehindert die Debatten, und
der in formeller Hinsicht gesetzwidrige Brauch schlug so tiefe Wurzeln, daß die
Abschaffung des parlamentarischen Privilegiums jetzt Niemand mehr auffallen würde.

Der politische Takt, der praktische Sinn des Engländers hatte alle die
Schwierigkeit gelöst; und die Gelehrten und die Theoretiker verloren kein Wort
darüber. Der gewissenhafte Samuel Johnson, der sich zwischen der Liebe für die
Preßfreiheit und der Achtung vor der Presse befand, wie Bnridan's Esel zwischen
den zwei Heubündeln, half sich durch eine schönklingende Phrase ans der Ver¬
legenheit. „Aus der Gefahr, die eine unbeschränkte Preßfreiheit mit sich führt,
und aus der andern Gefahr, welche mit dem Wunsche, die Presse zu beschränken,
verbunden ist, entsteht ein großes Problem, welches der menschliche Verstand zu
lösen außer Stande zu sein scheint." So sprach der erste englische Moralphilo¬
soph damaliger Zeit.

Der menschliche Verstand hat das Problem auch nicht gelöst; aber wohl die
verständige Praxis des Lebens. Wie sich von selbst versteht, zeigten sich die Ge-


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[0235] und wandelbar ist, blos nach der Logik zu regeln. Die offenbare Unvollkommen- heit der menschlichen Dinge macht das Gesetz in den Augen der wahrhaft poli¬ tischen Völker zu einer heiligen Sache; und das Gesetz ist ihnen heilig, weil es ihnen das Nothwendige, das Gerechte, das Vollkommene ist. Will man durch eine Reihe kleiner Gesetze, die sich widersprechet! und ausheben, das traditionell in den Sitten eingewurzelte Gesetz ersetzen, so gibt es kein Gesetz mehr, denn dieses vergebliche Suchen nach einem Absoluten, das uns beständig flieht, vernichtet das Rechts¬ gefühl. Deshalb verändern anch die politischen Nationen ihre Gesetze so wenig als möglich; sie wissen, daß ein umgemodeltes Gesetz ein geschwächtes Gesetz ist, und daß bei der Schwächung des Gesetzes die Menschheit selbst verliert. Sogar Bentham hat mit seiner politischen Philosophie keinen Anklang in England ge¬ funden. Diesen politischen Sinn zeigten die Engländer, als es sich um die Veröffent- lichung ihrer Parlamentsdebatten handelte. Wollte man logisch sein, so mußte von zwei kostbaren Privilegien, dem des Parlaments und dem der Preßfreiheit, eins geopfert werden. Sollte man die Privilegien des Unterhauses vernichten, die Nationalvertretnng verletzen und das Bollwerk der Volksfreiheit schwächen? Oder sollte man dem Unterhaus nachgeben, und damit die Preßfreiheit opfern, die politischen Debatten in Geheimniß hüllen und der schlimmsten aller Ty¬ ranneien, der parlamentarischen, verfallen? Man fand aus dieser Sackgasse einen Ausgang, der vor den Augen der strengen Logik freilich keine Gnade finden wird. Das Publicum bewies dem Parlament, daß es unterliegen müsse, wenn es im Kampfe beharre; aber es hütete sich wohl, es wirklich zu schlagen, und ließ ihm als Trost für die versteckte Niederlage seine Privilegien. Das Unterhaus, zu¬ friedengestellt auf dem Papier, begnügte sich damit und that wohl daran; das Gesetz blieb unverändert, die Presse veröffentlichte unbehindert die Debatten, und der in formeller Hinsicht gesetzwidrige Brauch schlug so tiefe Wurzeln, daß die Abschaffung des parlamentarischen Privilegiums jetzt Niemand mehr auffallen würde. Der politische Takt, der praktische Sinn des Engländers hatte alle die Schwierigkeit gelöst; und die Gelehrten und die Theoretiker verloren kein Wort darüber. Der gewissenhafte Samuel Johnson, der sich zwischen der Liebe für die Preßfreiheit und der Achtung vor der Presse befand, wie Bnridan's Esel zwischen den zwei Heubündeln, half sich durch eine schönklingende Phrase ans der Ver¬ legenheit. „Aus der Gefahr, die eine unbeschränkte Preßfreiheit mit sich führt, und aus der andern Gefahr, welche mit dem Wunsche, die Presse zu beschränken, verbunden ist, entsteht ein großes Problem, welches der menschliche Verstand zu lösen außer Stande zu sein scheint." So sprach der erste englische Moralphilo¬ soph damaliger Zeit. Der menschliche Verstand hat das Problem auch nicht gelöst; aber wohl die verständige Praxis des Lebens. Wie sich von selbst versteht, zeigten sich die Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/235>, abgerufen am 29.06.2024.