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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Es hängt das mit einer falschen ästhetischen Ansicht zusammen, die wir nicht
genug bekämpfen können. "Die höchste Aufgabe des Dichters, sagt Büchner in
einer Selbstrecension über Danton, ist, der Geschichte, wie-sie sich wirklich bege¬
ben, so nahe als möglich zu kommen. Sein Buch darf weder sittlicher noch un¬
sittlicher sein, als die Geschichte selbst ... Der Dichter ist kein Lehrer der Moral,
er erfindet und schafft Gestalten, er macht vergangene Zeiten wieder anstehe", und
die Leute mögen dann daraus lernen, so gut, wie aus dem Studium der Geschichte
und der Beobachtung dessen, was im menschlichen Leben um sie herum vorgeht . . .
Sonst müßte man über einen Gott Zeter schreien, der eine Welt erschaffen, wor¬
auf so viele Liederlichkeiten vorfalle)!. Wenn man mir sagen wollte, der Dichter
müsse die Welt nicht zeigen wie sie ist, sondern wie sie sein sollte, so antworte
ich, daß ich es nicht besser machen will, wie der liebe Gott, der die Welt gewiß
gemacht hat, wie sie sein soll. Was die sogenannten Jdealdichter anbetrifft, so
finde ich, daß sie fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affec-
tirtem Pathos, aber uicht Meuschen voll Fleisch und Blut gegeben haben, deren
Leid und Freude mich mitempfindend macht, und deren Thun und Handeln mir
Absehen oder Bewunderung einflößt. Mit einem Wort, ich halte viel ans Goethe
und Shakspeare, aber sehr wenig auf Schiller." --

Der Einwand, daß Gott doch wohl gewußt haben müsse, was er schuf,
reicht uicht aus, denn für Gott ist die Welt Totalität, in der ein Unvollkommenes
das Andere ergänzt. Der Dichter aber, der nur ein Fragment der Welt dar¬
stellt, kann sich mit dem Empirischen, dem Unvollkommenen nicht begnügen. Wenn
die Dichtung ein Duplicat des Wirklichen gäbe, so wüßte man nicht, wozu sie
da wäre. Sie soll erhebeu, erschüttern, ergötzen; das kann sie nur durch Ideale.
Freilich leisten Marionetten mit himmelblauen Nasen diese Wirkung nicht; darum
ebeu siud sie keine Ideale. Das bloße Wirkliche ist zu elend, um die Seele
dauernd zu erregen. -- Uebrigens ist dem Dichter anch nicht möglich, einen bloßen
Abklatsch des Wirklichen zu geben; er muß idealisiren, er mag wollen oder nicht,
und wenn er nicht nach der göttlichen Seite hin idealisirt, so idealisirt er nach
der teuflischen, wie die ganze neue Romantik.

Wenn also auch Büchner über Leuz die gewissenhaftesten Studien gemacht
hat, um in der Schilderung seines Wahnsinns so naturgetreu als möglich zu
sein, so ist dieses Studium doch uur die Nebensache; eigentlich ist seine Produc-
tivität in der Reihenfolge der Seelenzustände, und in dem Rapport, in welchen
dieselben zu deu entsprechenden Stimmungen der Natur gesetzt werden. Wie leb¬
hast sein Gefühl in dem Herausfinden dieses Rapports war -- die Eigenschaft
eines krankhaft reizbaren Nervensystems -- zeigen verschiedene halb im Scherz
halb im Ernst geschriebene Stellen seiner Briefe.

Abgesehen von dem falschen Gegenstand ist das Talent, welches all denselben
verschwendet ist, im höchsten Grade anzuerkennen. Malt sieht überall den wahren


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Es hängt das mit einer falschen ästhetischen Ansicht zusammen, die wir nicht
genug bekämpfen können. „Die höchste Aufgabe des Dichters, sagt Büchner in
einer Selbstrecension über Danton, ist, der Geschichte, wie-sie sich wirklich bege¬
ben, so nahe als möglich zu kommen. Sein Buch darf weder sittlicher noch un¬
sittlicher sein, als die Geschichte selbst ... Der Dichter ist kein Lehrer der Moral,
er erfindet und schafft Gestalten, er macht vergangene Zeiten wieder anstehe», und
die Leute mögen dann daraus lernen, so gut, wie aus dem Studium der Geschichte
und der Beobachtung dessen, was im menschlichen Leben um sie herum vorgeht . . .
Sonst müßte man über einen Gott Zeter schreien, der eine Welt erschaffen, wor¬
auf so viele Liederlichkeiten vorfalle)!. Wenn man mir sagen wollte, der Dichter
müsse die Welt nicht zeigen wie sie ist, sondern wie sie sein sollte, so antworte
ich, daß ich es nicht besser machen will, wie der liebe Gott, der die Welt gewiß
gemacht hat, wie sie sein soll. Was die sogenannten Jdealdichter anbetrifft, so
finde ich, daß sie fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affec-
tirtem Pathos, aber uicht Meuschen voll Fleisch und Blut gegeben haben, deren
Leid und Freude mich mitempfindend macht, und deren Thun und Handeln mir
Absehen oder Bewunderung einflößt. Mit einem Wort, ich halte viel ans Goethe
und Shakspeare, aber sehr wenig auf Schiller." —

Der Einwand, daß Gott doch wohl gewußt haben müsse, was er schuf,
reicht uicht aus, denn für Gott ist die Welt Totalität, in der ein Unvollkommenes
das Andere ergänzt. Der Dichter aber, der nur ein Fragment der Welt dar¬
stellt, kann sich mit dem Empirischen, dem Unvollkommenen nicht begnügen. Wenn
die Dichtung ein Duplicat des Wirklichen gäbe, so wüßte man nicht, wozu sie
da wäre. Sie soll erhebeu, erschüttern, ergötzen; das kann sie nur durch Ideale.
Freilich leisten Marionetten mit himmelblauen Nasen diese Wirkung nicht; darum
ebeu siud sie keine Ideale. Das bloße Wirkliche ist zu elend, um die Seele
dauernd zu erregen. — Uebrigens ist dem Dichter anch nicht möglich, einen bloßen
Abklatsch des Wirklichen zu geben; er muß idealisiren, er mag wollen oder nicht,
und wenn er nicht nach der göttlichen Seite hin idealisirt, so idealisirt er nach
der teuflischen, wie die ganze neue Romantik.

Wenn also auch Büchner über Leuz die gewissenhaftesten Studien gemacht
hat, um in der Schilderung seines Wahnsinns so naturgetreu als möglich zu
sein, so ist dieses Studium doch uur die Nebensache; eigentlich ist seine Produc-
tivität in der Reihenfolge der Seelenzustände, und in dem Rapport, in welchen
dieselben zu deu entsprechenden Stimmungen der Natur gesetzt werden. Wie leb¬
hast sein Gefühl in dem Herausfinden dieses Rapports war — die Eigenschaft
eines krankhaft reizbaren Nervensystems — zeigen verschiedene halb im Scherz
halb im Ernst geschriebene Stellen seiner Briefe.

Abgesehen von dem falschen Gegenstand ist das Talent, welches all denselben
verschwendet ist, im höchsten Grade anzuerkennen. Malt sieht überall den wahren


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[0135] Es hängt das mit einer falschen ästhetischen Ansicht zusammen, die wir nicht genug bekämpfen können. „Die höchste Aufgabe des Dichters, sagt Büchner in einer Selbstrecension über Danton, ist, der Geschichte, wie-sie sich wirklich bege¬ ben, so nahe als möglich zu kommen. Sein Buch darf weder sittlicher noch un¬ sittlicher sein, als die Geschichte selbst ... Der Dichter ist kein Lehrer der Moral, er erfindet und schafft Gestalten, er macht vergangene Zeiten wieder anstehe», und die Leute mögen dann daraus lernen, so gut, wie aus dem Studium der Geschichte und der Beobachtung dessen, was im menschlichen Leben um sie herum vorgeht . . . Sonst müßte man über einen Gott Zeter schreien, der eine Welt erschaffen, wor¬ auf so viele Liederlichkeiten vorfalle)!. Wenn man mir sagen wollte, der Dichter müsse die Welt nicht zeigen wie sie ist, sondern wie sie sein sollte, so antworte ich, daß ich es nicht besser machen will, wie der liebe Gott, der die Welt gewiß gemacht hat, wie sie sein soll. Was die sogenannten Jdealdichter anbetrifft, so finde ich, daß sie fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affec- tirtem Pathos, aber uicht Meuschen voll Fleisch und Blut gegeben haben, deren Leid und Freude mich mitempfindend macht, und deren Thun und Handeln mir Absehen oder Bewunderung einflößt. Mit einem Wort, ich halte viel ans Goethe und Shakspeare, aber sehr wenig auf Schiller." — Der Einwand, daß Gott doch wohl gewußt haben müsse, was er schuf, reicht uicht aus, denn für Gott ist die Welt Totalität, in der ein Unvollkommenes das Andere ergänzt. Der Dichter aber, der nur ein Fragment der Welt dar¬ stellt, kann sich mit dem Empirischen, dem Unvollkommenen nicht begnügen. Wenn die Dichtung ein Duplicat des Wirklichen gäbe, so wüßte man nicht, wozu sie da wäre. Sie soll erhebeu, erschüttern, ergötzen; das kann sie nur durch Ideale. Freilich leisten Marionetten mit himmelblauen Nasen diese Wirkung nicht; darum ebeu siud sie keine Ideale. Das bloße Wirkliche ist zu elend, um die Seele dauernd zu erregen. — Uebrigens ist dem Dichter anch nicht möglich, einen bloßen Abklatsch des Wirklichen zu geben; er muß idealisiren, er mag wollen oder nicht, und wenn er nicht nach der göttlichen Seite hin idealisirt, so idealisirt er nach der teuflischen, wie die ganze neue Romantik. Wenn also auch Büchner über Leuz die gewissenhaftesten Studien gemacht hat, um in der Schilderung seines Wahnsinns so naturgetreu als möglich zu sein, so ist dieses Studium doch uur die Nebensache; eigentlich ist seine Produc- tivität in der Reihenfolge der Seelenzustände, und in dem Rapport, in welchen dieselben zu deu entsprechenden Stimmungen der Natur gesetzt werden. Wie leb¬ hast sein Gefühl in dem Herausfinden dieses Rapports war — die Eigenschaft eines krankhaft reizbaren Nervensystems — zeigen verschiedene halb im Scherz halb im Ernst geschriebene Stellen seiner Briefe. Abgesehen von dem falschen Gegenstand ist das Talent, welches all denselben verschwendet ist, im höchsten Grade anzuerkennen. Malt sieht überall den wahren 16*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/135>, abgerufen am 23.06.2024.