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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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nicht die Geschichte ist bei ihm die Hauptsache, sondern die in dieser Geschichte
sich ausprägende Stimmung. Das gilt ebenso von Walter Scott, wie von Byron,
Campbell (dessen Gertrud von Wyoming 1808 gleichfalls einen ungeheuern Er¬
folg errang), Moore (dessen Lalla Rvokh 1817 erschien) und den Uebrigen. Wir
befinden uns in einer elegisch contemplativen Stimmung, die sich zwar je nach
der Befähigung des Dichters zu mehr oder minder ausgeführten Figuren und
Begebenheiten ausbreitet, die aber doch in denselben überall den Leittou bildet.
Die Gedichte haben daher zu gleicher Zeit einen landschaftlichen Charakter und
stehen mit den Lyrikern der "Schule der Seen," Wordsworth und dergleichen,
auf dem nämlichen Boden. "Das Lied des letzten Minstrel" hat diesen Charakter
am ausgeprägtsten. Zwar wird uns die alte Klosterruine, und was sich daran
knüpft, durch entsprechende Gestalten belebt, aber eigentlich fesselt uns immer nur
das bleiche Mondlicht aus diesen Trümmern althistorischer Erinnerungen, und wir
werden nur lyrisch angeregt. "Das Lied des letzten Minstrel" ist daher auch
von allen Walter Scott'schen Gedichten am meisten in Anthologien zerpflückt, und
man hat über den einzelnen poetischen Schönheiten desselben den Zusammenhang
des Ganzen aus dem Sinn verloren. Es unterscheidet sich aber von unsern sen¬
timentalen Klosterelegien sowie von den barocken Romanen Victor Hugo's, in
denen ein ähnlicher Bildungsproceß vorwaltet, durch zweierlei. Einmal ist die
Schilderung mit der größten Gewissenhaftigkeit ausgeführt; das Mondlicht ist trotz
seines träumerischen Scheines noch immer deutlich genug, um bestimmte Formen,
scharfe Schatten und eine, wenn auch gedämpfte Färbung zu unterscheiden. Walter
Scott hat nicht mit dem abstracten Mondlicht und der abstracten Ruine allein zu
thun, wie unsere somnambulen Dichter, denen diese' beiden einfachen Vorstellungen
vollkommen genügen, um allerlei conventionelle Melancholie daran zu knüpfen,
sondern er betrachtet die Landschaft mit den Augen eines Landschaftsmalers, der
zwar die Stimmung festhält, aber nur die Stimmung an individuellen Gestal¬
tungen; von Victor Hugo dagegen unterscheidet er sich dadurch, daß seine Figu¬
ren keine barocken Arabesken sind, die symbolisch an den Stein gebannt werden,
wenn auch mit scheinbarem Leben, um den Charakter der Architektur zu vervoll¬
ständigen, sondern lebendige menschliche Gestalten, denen gegenüber die Architektur
sich in das ihr zukommende Maß zurückziehen muß, in die Bestimmung des Wohn¬
orts und des Tempels. Die Materie beleidigt uus uicht, weil sie den Geist
nicht unterdrückt, sondern ihm nur den angemessenen Rahmen gibt. Darum ver¬
lieren sich seiue Figuren auch nie in Schnörkel und Zerrbilder; er ist zu gründ¬
lich, um verworren zu sein.

Die Stimmung des zweiten Gedichts, "das Fräulein am See," ist eine
Tagesstimmnng: wie über die Ruinen des ersten der angemessene Mondschein,
so breitet sich über die grünen Wälder und Fclsparthieeu des l^voir Karins das
hellste Sonnenlicht; und wenn auch dieses Sonnenlicht einmal durch ein wildes


nicht die Geschichte ist bei ihm die Hauptsache, sondern die in dieser Geschichte
sich ausprägende Stimmung. Das gilt ebenso von Walter Scott, wie von Byron,
Campbell (dessen Gertrud von Wyoming 1808 gleichfalls einen ungeheuern Er¬
folg errang), Moore (dessen Lalla Rvokh 1817 erschien) und den Uebrigen. Wir
befinden uns in einer elegisch contemplativen Stimmung, die sich zwar je nach
der Befähigung des Dichters zu mehr oder minder ausgeführten Figuren und
Begebenheiten ausbreitet, die aber doch in denselben überall den Leittou bildet.
Die Gedichte haben daher zu gleicher Zeit einen landschaftlichen Charakter und
stehen mit den Lyrikern der „Schule der Seen," Wordsworth und dergleichen,
auf dem nämlichen Boden. „Das Lied des letzten Minstrel" hat diesen Charakter
am ausgeprägtsten. Zwar wird uns die alte Klosterruine, und was sich daran
knüpft, durch entsprechende Gestalten belebt, aber eigentlich fesselt uns immer nur
das bleiche Mondlicht aus diesen Trümmern althistorischer Erinnerungen, und wir
werden nur lyrisch angeregt. „Das Lied des letzten Minstrel" ist daher auch
von allen Walter Scott'schen Gedichten am meisten in Anthologien zerpflückt, und
man hat über den einzelnen poetischen Schönheiten desselben den Zusammenhang
des Ganzen aus dem Sinn verloren. Es unterscheidet sich aber von unsern sen¬
timentalen Klosterelegien sowie von den barocken Romanen Victor Hugo's, in
denen ein ähnlicher Bildungsproceß vorwaltet, durch zweierlei. Einmal ist die
Schilderung mit der größten Gewissenhaftigkeit ausgeführt; das Mondlicht ist trotz
seines träumerischen Scheines noch immer deutlich genug, um bestimmte Formen,
scharfe Schatten und eine, wenn auch gedämpfte Färbung zu unterscheiden. Walter
Scott hat nicht mit dem abstracten Mondlicht und der abstracten Ruine allein zu
thun, wie unsere somnambulen Dichter, denen diese' beiden einfachen Vorstellungen
vollkommen genügen, um allerlei conventionelle Melancholie daran zu knüpfen,
sondern er betrachtet die Landschaft mit den Augen eines Landschaftsmalers, der
zwar die Stimmung festhält, aber nur die Stimmung an individuellen Gestal¬
tungen; von Victor Hugo dagegen unterscheidet er sich dadurch, daß seine Figu¬
ren keine barocken Arabesken sind, die symbolisch an den Stein gebannt werden,
wenn auch mit scheinbarem Leben, um den Charakter der Architektur zu vervoll¬
ständigen, sondern lebendige menschliche Gestalten, denen gegenüber die Architektur
sich in das ihr zukommende Maß zurückziehen muß, in die Bestimmung des Wohn¬
orts und des Tempels. Die Materie beleidigt uus uicht, weil sie den Geist
nicht unterdrückt, sondern ihm nur den angemessenen Rahmen gibt. Darum ver¬
lieren sich seiue Figuren auch nie in Schnörkel und Zerrbilder; er ist zu gründ¬
lich, um verworren zu sein.

Die Stimmung des zweiten Gedichts, „das Fräulein am See," ist eine
Tagesstimmnng: wie über die Ruinen des ersten der angemessene Mondschein,
so breitet sich über die grünen Wälder und Fclsparthieeu des l^voir Karins das
hellste Sonnenlicht; und wenn auch dieses Sonnenlicht einmal durch ein wildes


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/59>, abgerufen am 01.09.2024.