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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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Ein zweiter Umstand fällt eben so schwer in die Wagschale. Die Ver¬
fassung verbietet die Wiederwahl des gegenwärtigen Präsidenten für die nächste
Wahlperiode; es ist aber eine nicht kleine Partei, namentlich unter dem Militair
vorhanden, die ihn um jeden Preis behalten will, und sowol seine früheren An-
tecedentien, wie auch sein letztes Austreten berechtigen uns zu der Ansicht, er
werde, um seinen Ehrgeiz zu befriedigen, vor keinem Mittel zurückschrecken. Sein
Mißvergnügen über die conservative Partei, von der er sich bis jetzt hat leiten
lassen, und die ihn nun im Stiche läßt, ist so weit gegangen, daß er sich nicht
abgeneigt erklärt hat, das so theuer erkaufte Wahlgesetz vom 31. Mai preiszu¬
geben, um dadurch die öffentliche Meinung wieder für sich zu gewinne", und daß
er bei dem neulichen Feste in Dijon in Gegenwart der höchsten Staatsbehörden
eine schwere Anklage gegen die Majorität der Nationalversammlung ausgespro¬
chen hat. Die Majorität hat diese Herausforderung dnrch eine sehr energische
Kriegserklärung ihres Generals Changarnier erwidert.

Die Sache steht also so, daß nicht allein im Princip vier verschiedene Par¬
teien, drei dynastische und eine republikanische, sich gegenüberstehen, sondern daß
anch jede derselben über ein schlagfertiges Heer, und was noch wichtiger ist, über
eine Anzahl ihr völlig ergebener Generale disponirt. Unter solchen Umständen
ist es nicht zu verwundern, wenn ganz Frankreich davon überzeugt ist, es müsse
im Mai des folgenden Jahres eine furchtbare Revolution ausbrechen, wenn es
nicht vorher gelingt, die Verfassung zu ändern.

Die verfassungsmäßigen Mittel dieser Aenderung sind folgende. Wenn die
gegenwärtige Versammlung jetzt im letzten Jahre ihres Bestehens in drei durch
einen Monat von einander getrennten Perioden jedesmal mit einer Majo¬
rität von drei Vierteln der sämmtlichen Stimmen beschließt, daß eine
Revision der Verfassung nothwendig sei, so wird zu diesem Zweck eine neue cvn-
stitnirende Versammlung einberufen.

Diese verfassungsmäßige Aenderung der Verfassung ist wenigstens nach mensch¬
licher Berechnung geradezu unmöglich. Abgesehen davon, daß die Leidenschaftlich¬
keit, die gerade in diesem Augenblick zwischen den verschiedenen Fractionen der
Majorität herrscht, es kaum zu einem gemeinschaftlichen Beschluß kommen lassen
wird, der über die bloße Negation hinausgeht, würde auch ein solcher gemein¬
schaftlicher Beschluß Nichts helfen, denn er würde nie die verfassungsmäßige Ma¬
jorität von drei Vierteln der Stimmen erlangen, weil die Zahl der reinen Repu¬
blikaner, die wie ein Mann gegen die Revision stimmen werden, beinahe ein
Drittel beträgt. Es ist auch eigentlich Niemand in den verschiedenen Parteien, der
sich darüber täuscht; aber die Vertheidiger der Ordnung quanä meme fordern
die Nationalversammlung ans, sich durch deu Widerspruch der Verfassung nicht
irren zu lassen, und ihren Beschluß gegen den Buchstaben derselben mit Be-


Si*

Ein zweiter Umstand fällt eben so schwer in die Wagschale. Die Ver¬
fassung verbietet die Wiederwahl des gegenwärtigen Präsidenten für die nächste
Wahlperiode; es ist aber eine nicht kleine Partei, namentlich unter dem Militair
vorhanden, die ihn um jeden Preis behalten will, und sowol seine früheren An-
tecedentien, wie auch sein letztes Austreten berechtigen uns zu der Ansicht, er
werde, um seinen Ehrgeiz zu befriedigen, vor keinem Mittel zurückschrecken. Sein
Mißvergnügen über die conservative Partei, von der er sich bis jetzt hat leiten
lassen, und die ihn nun im Stiche läßt, ist so weit gegangen, daß er sich nicht
abgeneigt erklärt hat, das so theuer erkaufte Wahlgesetz vom 31. Mai preiszu¬
geben, um dadurch die öffentliche Meinung wieder für sich zu gewinne», und daß
er bei dem neulichen Feste in Dijon in Gegenwart der höchsten Staatsbehörden
eine schwere Anklage gegen die Majorität der Nationalversammlung ausgespro¬
chen hat. Die Majorität hat diese Herausforderung dnrch eine sehr energische
Kriegserklärung ihres Generals Changarnier erwidert.

Die Sache steht also so, daß nicht allein im Princip vier verschiedene Par¬
teien, drei dynastische und eine republikanische, sich gegenüberstehen, sondern daß
anch jede derselben über ein schlagfertiges Heer, und was noch wichtiger ist, über
eine Anzahl ihr völlig ergebener Generale disponirt. Unter solchen Umständen
ist es nicht zu verwundern, wenn ganz Frankreich davon überzeugt ist, es müsse
im Mai des folgenden Jahres eine furchtbare Revolution ausbrechen, wenn es
nicht vorher gelingt, die Verfassung zu ändern.

Die verfassungsmäßigen Mittel dieser Aenderung sind folgende. Wenn die
gegenwärtige Versammlung jetzt im letzten Jahre ihres Bestehens in drei durch
einen Monat von einander getrennten Perioden jedesmal mit einer Majo¬
rität von drei Vierteln der sämmtlichen Stimmen beschließt, daß eine
Revision der Verfassung nothwendig sei, so wird zu diesem Zweck eine neue cvn-
stitnirende Versammlung einberufen.

Diese verfassungsmäßige Aenderung der Verfassung ist wenigstens nach mensch¬
licher Berechnung geradezu unmöglich. Abgesehen davon, daß die Leidenschaftlich¬
keit, die gerade in diesem Augenblick zwischen den verschiedenen Fractionen der
Majorität herrscht, es kaum zu einem gemeinschaftlichen Beschluß kommen lassen
wird, der über die bloße Negation hinausgeht, würde auch ein solcher gemein¬
schaftlicher Beschluß Nichts helfen, denn er würde nie die verfassungsmäßige Ma¬
jorität von drei Vierteln der Stimmen erlangen, weil die Zahl der reinen Repu¬
blikaner, die wie ein Mann gegen die Revision stimmen werden, beinahe ein
Drittel beträgt. Es ist auch eigentlich Niemand in den verschiedenen Parteien, der
sich darüber täuscht; aber die Vertheidiger der Ordnung quanä meme fordern
die Nationalversammlung ans, sich durch deu Widerspruch der Verfassung nicht
irren zu lassen, und ihren Beschluß gegen den Buchstaben derselben mit Be-


Si*
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[0439] Ein zweiter Umstand fällt eben so schwer in die Wagschale. Die Ver¬ fassung verbietet die Wiederwahl des gegenwärtigen Präsidenten für die nächste Wahlperiode; es ist aber eine nicht kleine Partei, namentlich unter dem Militair vorhanden, die ihn um jeden Preis behalten will, und sowol seine früheren An- tecedentien, wie auch sein letztes Austreten berechtigen uns zu der Ansicht, er werde, um seinen Ehrgeiz zu befriedigen, vor keinem Mittel zurückschrecken. Sein Mißvergnügen über die conservative Partei, von der er sich bis jetzt hat leiten lassen, und die ihn nun im Stiche läßt, ist so weit gegangen, daß er sich nicht abgeneigt erklärt hat, das so theuer erkaufte Wahlgesetz vom 31. Mai preiszu¬ geben, um dadurch die öffentliche Meinung wieder für sich zu gewinne», und daß er bei dem neulichen Feste in Dijon in Gegenwart der höchsten Staatsbehörden eine schwere Anklage gegen die Majorität der Nationalversammlung ausgespro¬ chen hat. Die Majorität hat diese Herausforderung dnrch eine sehr energische Kriegserklärung ihres Generals Changarnier erwidert. Die Sache steht also so, daß nicht allein im Princip vier verschiedene Par¬ teien, drei dynastische und eine republikanische, sich gegenüberstehen, sondern daß anch jede derselben über ein schlagfertiges Heer, und was noch wichtiger ist, über eine Anzahl ihr völlig ergebener Generale disponirt. Unter solchen Umständen ist es nicht zu verwundern, wenn ganz Frankreich davon überzeugt ist, es müsse im Mai des folgenden Jahres eine furchtbare Revolution ausbrechen, wenn es nicht vorher gelingt, die Verfassung zu ändern. Die verfassungsmäßigen Mittel dieser Aenderung sind folgende. Wenn die gegenwärtige Versammlung jetzt im letzten Jahre ihres Bestehens in drei durch einen Monat von einander getrennten Perioden jedesmal mit einer Majo¬ rität von drei Vierteln der sämmtlichen Stimmen beschließt, daß eine Revision der Verfassung nothwendig sei, so wird zu diesem Zweck eine neue cvn- stitnirende Versammlung einberufen. Diese verfassungsmäßige Aenderung der Verfassung ist wenigstens nach mensch¬ licher Berechnung geradezu unmöglich. Abgesehen davon, daß die Leidenschaftlich¬ keit, die gerade in diesem Augenblick zwischen den verschiedenen Fractionen der Majorität herrscht, es kaum zu einem gemeinschaftlichen Beschluß kommen lassen wird, der über die bloße Negation hinausgeht, würde auch ein solcher gemein¬ schaftlicher Beschluß Nichts helfen, denn er würde nie die verfassungsmäßige Ma¬ jorität von drei Vierteln der Stimmen erlangen, weil die Zahl der reinen Repu¬ blikaner, die wie ein Mann gegen die Revision stimmen werden, beinahe ein Drittel beträgt. Es ist auch eigentlich Niemand in den verschiedenen Parteien, der sich darüber täuscht; aber die Vertheidiger der Ordnung quanä meme fordern die Nationalversammlung ans, sich durch deu Widerspruch der Verfassung nicht irren zu lassen, und ihren Beschluß gegen den Buchstaben derselben mit Be- Si*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/439>, abgerufen am 27.07.2024.