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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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musikalische Bildung beanspruchen, weil sie in so genauer Wechselwirkung mit
dem dramatischen Theil stehen, daß ein mangelhaftes, einseitiges Eingehen in die
künstlerische Aufgabe derselben alle Wirkung raubt. Gluck's großes Verdienst
in dieser Beziehung wurde von den verständigen Künstlern und Kunstfreunden
sowol seiner Zeit als auch in den nachfolgenden gebührend anerkannt, und doch
hat er, seinen vorzüglichsten Schüler Mosul ausgenommen, vor Wagner keine
Nachfolger gehabt. Der Grund ist darin zu suchen, daß Mozart mit seinem
unendlich größern musikalischen Inhalt sich der Italienischen Schule anschloß.
Seine liebenswürdigen, blühenden und bei allem Ernste doch populairen Melodien,
sein glänzendes Kolorit in der Jnstrumentation, die Concessionen, dnrch welche er
die Sänger znseinen Sclaven machte, die von ihm gewählten sujets, dem Publicum
zugänglicher als die der antiken Welt entlehnten, -- alle diese Umstände trugen
dazu bei, den ernsten, an das Nachdenken appellirenden Gluck zu verdrängen.
So geschah es, daß Glucks Opern nur als Raritäten dem Publicum vorgeführt
wurden, daß manchen unsrer heutigen Komponisten sein Name als ein mythi¬
scher erscheint. Die dnrch Mozart nach Deutschem Wesen hin modificirte
Italienische Schule blieb lange Zeit in unumschränkter Geltung, bis Beethoven
in selbstständiger Schöpfung, Weber durch die Herbeiziehung des Deutschen
Volksliedes in der Führung seiner Melodien gewissermaßen die ersten specifisch
Deutschen Opern schrieben, in denen wiederum das offne Bestreben an den Tag
tritt, der virtuosen Gesangskunst alle Zugeständnisse zu entziehen. Ihnen schlössen
sich in dieser Beziehung mit Eifer Schumann und Niet; an,, deren redliche Absicht
leider theilweise an dein Umstände scheiterte, daß sie den dramatischen Styl,
dessen vorzüglichste Aufgabe es sein muß, durch einfache Größe und Wahrheit
der Darstellung zu wirken, in allzu complicirter und gelehrter Form handhabten.
Ein vollständiges Lossagen von der Mozart'schen Opernfvrm findet bei allen diesen
Componisten jedoch nicht statt. Auch Wagner ist in seinem Rienzi noch abhängig
von Meyerbeer; ein bewußter Uebergang zu Glück's Principien findet sich schon
in dem fliegenden Holländer, eine Entschiedenheit, sich dafür zu erklären, prägt
sich erst im Tannhäuser, noch bestimmter aber im Lohengrin aus. Der Tann¬
häuser nähert sich in seiner musikalischen Keuschheit einer gewissen Vollendung,
der Lohengrin steht vielleicht noch über ihm, so weit die bei ihm zu erhöhter
Klarheit gediehenen Ansichten und das geläuterte Streben nach musikalischer
Wahrheit und Einfachheit hier in Betracht zu ziehen sind. Darin steht er mit
Gluck auf gleicher Stufe, aber seine innere, schöpferische Kraft steht bis jetzt ihm
noch nach, denn auch die Melodien der letzten Oper erscheinen immer noch als
Gebilde der Reflexion, erregen aber eine gewisse künstlerische Befriedigung, da sie
frei von jeder Coquetterie mit der Mode sind. Von diesem Fehler ist der talent¬
volle und geschickte Meyerbeer nicht freizusprechen, es ist der hauptsächlichste, den
man ihm zum Vorwurf machen muß, aus ihm entspringen auch alle die andern


Grcnzvotcn. it, 1851. 53

musikalische Bildung beanspruchen, weil sie in so genauer Wechselwirkung mit
dem dramatischen Theil stehen, daß ein mangelhaftes, einseitiges Eingehen in die
künstlerische Aufgabe derselben alle Wirkung raubt. Gluck's großes Verdienst
in dieser Beziehung wurde von den verständigen Künstlern und Kunstfreunden
sowol seiner Zeit als auch in den nachfolgenden gebührend anerkannt, und doch
hat er, seinen vorzüglichsten Schüler Mosul ausgenommen, vor Wagner keine
Nachfolger gehabt. Der Grund ist darin zu suchen, daß Mozart mit seinem
unendlich größern musikalischen Inhalt sich der Italienischen Schule anschloß.
Seine liebenswürdigen, blühenden und bei allem Ernste doch populairen Melodien,
sein glänzendes Kolorit in der Jnstrumentation, die Concessionen, dnrch welche er
die Sänger znseinen Sclaven machte, die von ihm gewählten sujets, dem Publicum
zugänglicher als die der antiken Welt entlehnten, — alle diese Umstände trugen
dazu bei, den ernsten, an das Nachdenken appellirenden Gluck zu verdrängen.
So geschah es, daß Glucks Opern nur als Raritäten dem Publicum vorgeführt
wurden, daß manchen unsrer heutigen Komponisten sein Name als ein mythi¬
scher erscheint. Die dnrch Mozart nach Deutschem Wesen hin modificirte
Italienische Schule blieb lange Zeit in unumschränkter Geltung, bis Beethoven
in selbstständiger Schöpfung, Weber durch die Herbeiziehung des Deutschen
Volksliedes in der Führung seiner Melodien gewissermaßen die ersten specifisch
Deutschen Opern schrieben, in denen wiederum das offne Bestreben an den Tag
tritt, der virtuosen Gesangskunst alle Zugeständnisse zu entziehen. Ihnen schlössen
sich in dieser Beziehung mit Eifer Schumann und Niet; an,, deren redliche Absicht
leider theilweise an dein Umstände scheiterte, daß sie den dramatischen Styl,
dessen vorzüglichste Aufgabe es sein muß, durch einfache Größe und Wahrheit
der Darstellung zu wirken, in allzu complicirter und gelehrter Form handhabten.
Ein vollständiges Lossagen von der Mozart'schen Opernfvrm findet bei allen diesen
Componisten jedoch nicht statt. Auch Wagner ist in seinem Rienzi noch abhängig
von Meyerbeer; ein bewußter Uebergang zu Glück's Principien findet sich schon
in dem fliegenden Holländer, eine Entschiedenheit, sich dafür zu erklären, prägt
sich erst im Tannhäuser, noch bestimmter aber im Lohengrin aus. Der Tann¬
häuser nähert sich in seiner musikalischen Keuschheit einer gewissen Vollendung,
der Lohengrin steht vielleicht noch über ihm, so weit die bei ihm zu erhöhter
Klarheit gediehenen Ansichten und das geläuterte Streben nach musikalischer
Wahrheit und Einfachheit hier in Betracht zu ziehen sind. Darin steht er mit
Gluck auf gleicher Stufe, aber seine innere, schöpferische Kraft steht bis jetzt ihm
noch nach, denn auch die Melodien der letzten Oper erscheinen immer noch als
Gebilde der Reflexion, erregen aber eine gewisse künstlerische Befriedigung, da sie
frei von jeder Coquetterie mit der Mode sind. Von diesem Fehler ist der talent¬
volle und geschickte Meyerbeer nicht freizusprechen, es ist der hauptsächlichste, den
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[0429] musikalische Bildung beanspruchen, weil sie in so genauer Wechselwirkung mit dem dramatischen Theil stehen, daß ein mangelhaftes, einseitiges Eingehen in die künstlerische Aufgabe derselben alle Wirkung raubt. Gluck's großes Verdienst in dieser Beziehung wurde von den verständigen Künstlern und Kunstfreunden sowol seiner Zeit als auch in den nachfolgenden gebührend anerkannt, und doch hat er, seinen vorzüglichsten Schüler Mosul ausgenommen, vor Wagner keine Nachfolger gehabt. Der Grund ist darin zu suchen, daß Mozart mit seinem unendlich größern musikalischen Inhalt sich der Italienischen Schule anschloß. Seine liebenswürdigen, blühenden und bei allem Ernste doch populairen Melodien, sein glänzendes Kolorit in der Jnstrumentation, die Concessionen, dnrch welche er die Sänger znseinen Sclaven machte, die von ihm gewählten sujets, dem Publicum zugänglicher als die der antiken Welt entlehnten, — alle diese Umstände trugen dazu bei, den ernsten, an das Nachdenken appellirenden Gluck zu verdrängen. So geschah es, daß Glucks Opern nur als Raritäten dem Publicum vorgeführt wurden, daß manchen unsrer heutigen Komponisten sein Name als ein mythi¬ scher erscheint. Die dnrch Mozart nach Deutschem Wesen hin modificirte Italienische Schule blieb lange Zeit in unumschränkter Geltung, bis Beethoven in selbstständiger Schöpfung, Weber durch die Herbeiziehung des Deutschen Volksliedes in der Führung seiner Melodien gewissermaßen die ersten specifisch Deutschen Opern schrieben, in denen wiederum das offne Bestreben an den Tag tritt, der virtuosen Gesangskunst alle Zugeständnisse zu entziehen. Ihnen schlössen sich in dieser Beziehung mit Eifer Schumann und Niet; an,, deren redliche Absicht leider theilweise an dein Umstände scheiterte, daß sie den dramatischen Styl, dessen vorzüglichste Aufgabe es sein muß, durch einfache Größe und Wahrheit der Darstellung zu wirken, in allzu complicirter und gelehrter Form handhabten. Ein vollständiges Lossagen von der Mozart'schen Opernfvrm findet bei allen diesen Componisten jedoch nicht statt. Auch Wagner ist in seinem Rienzi noch abhängig von Meyerbeer; ein bewußter Uebergang zu Glück's Principien findet sich schon in dem fliegenden Holländer, eine Entschiedenheit, sich dafür zu erklären, prägt sich erst im Tannhäuser, noch bestimmter aber im Lohengrin aus. Der Tann¬ häuser nähert sich in seiner musikalischen Keuschheit einer gewissen Vollendung, der Lohengrin steht vielleicht noch über ihm, so weit die bei ihm zu erhöhter Klarheit gediehenen Ansichten und das geläuterte Streben nach musikalischer Wahrheit und Einfachheit hier in Betracht zu ziehen sind. Darin steht er mit Gluck auf gleicher Stufe, aber seine innere, schöpferische Kraft steht bis jetzt ihm noch nach, denn auch die Melodien der letzten Oper erscheinen immer noch als Gebilde der Reflexion, erregen aber eine gewisse künstlerische Befriedigung, da sie frei von jeder Coquetterie mit der Mode sind. Von diesem Fehler ist der talent¬ volle und geschickte Meyerbeer nicht freizusprechen, es ist der hauptsächlichste, den man ihm zum Vorwurf machen muß, aus ihm entspringen auch alle die andern Grcnzvotcn. it, 1851. 53

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/429>, abgerufen am 01.09.2024.