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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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durch einen Zufall herbeigeführt, aber dieser Zufall ist so beiläufig behandelt, daß
man gar nicht daran denkt, und außerdem sind die Persönlichkeiten von der Art,
daß sie einen ähnlichen Zufall provociren. In der Familie Schroffenstein dagegen
wird mit voller Absicht bei jeder Gelegenheit daran erinnert, daß der ganze Streit
um ein Nichts geführt wird. Der Dichter sündigt mit vollem Bewußtsein, und
darum werde" wir auch durch den versöhnenden Schluß uicht erhoben. Wenn die
Familien Montague und Capulet sich über dem Grabe der beide" Liebenden die
Hände reichen, so ist das zwar ein düsterer Friede, aber als Friede, der eine
Jahrhundert lange Fehde beendigt, ist es doch immer ein positives Resultat jenes
unglücklichen Schicksals, das die Gemüther gebrochen und zur Versöhnung gestimmt
hat. Zwischen den beiden Zweigen der Familie Schroffenstciu dagegen herrschte
uur eine eingebildete Fehde, und man wird unwillig, daß sie nicht mit dem Schluß
angefangen haben. Außerdem sind die Greuel, die aus den Verwickelungen des
Zufalls entspringen, zu willkürlich erdacht; daß die beideu Väter ihre eigenen
Kinder aus Mißverständniß umbringen müssen, schmeckt zu sehr nach der Absicht,
und wir empfinden, daß es nicht nöthig war.

Die Hermanusschlacht fällt in die Zeit des Tugendbundes und der
Fichte'schen Reden an die Deutsche Nation. Der Stoff ist bei dem neu erweckten
Patriotismus unsrer Nation tausendfältig behandelt worden, von Klopstock an-
der ein ziemlich schwülstiges und inhaltloses Bardit daraus machte, bis auf Grabbe,
der es zu einem barocken Genrestück verarbeitete. Dazwischen liegen die roman¬
tischen Nachtstücke eines Fouque, das für deu Theetisch berechnete Schauspiel der
Frau von Weissenthurn n. f. w. Kleist unterscheidet sich von allen übrigen Dichtern
durch die Stimmung, welche allein diesem eigentlich blos epischen Stoffe ein dra¬
matisches Leben geben kann. Der Chernskerheld ist eigentlich ein verschlagener Staats'
manu, dessen That man vom historischen Standpunkte vollkommen billigen kann, der
aber schwer eine dramatisch interessante Gestalt gewinnt. Börne hat in einer
Kritik über Immermann's "Trauerspiel in Tyrol" sehr richtig auseinandergesetzt,
wie mißlich es ist, eine Ueberlistnng des Feindes und eine Vernichtung desselben
durch überlegene Gewalt, gleichsam dnrch einen Naturproceß, dramatisch darstellen
zu wollen. Dieser Eindruck wird aber bei Kleist durch deu wahrhaft diabolischen
Haß, den er seinem Helden leiht, sehr wesentlich verändert. Man kann über
diesen Haß trotz der sittlichen Motivinmg erschrecken,^ man kann ihn mißbilligen,
aber er macht einen dramatischen Eindruck. -- Man vergleiche folgende Stellen.
Als Hermann seiner Thusnelde eröffnet, daß die gesammte Römische Besatzung
geschlachtet werden soll, und sie ihn fragt, ob der Schlag rücksichtslos die Guten
wie die Schlechten treffen solle:


Die Guten mit den Schlechten. -- Was! Die Guten!
DaS sind die Schlechtesten! Der Rache Keil
Soll sie zuerst vor allen Andern treffen!

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durch einen Zufall herbeigeführt, aber dieser Zufall ist so beiläufig behandelt, daß
man gar nicht daran denkt, und außerdem sind die Persönlichkeiten von der Art,
daß sie einen ähnlichen Zufall provociren. In der Familie Schroffenstein dagegen
wird mit voller Absicht bei jeder Gelegenheit daran erinnert, daß der ganze Streit
um ein Nichts geführt wird. Der Dichter sündigt mit vollem Bewußtsein, und
darum werde« wir auch durch den versöhnenden Schluß uicht erhoben. Wenn die
Familien Montague und Capulet sich über dem Grabe der beide» Liebenden die
Hände reichen, so ist das zwar ein düsterer Friede, aber als Friede, der eine
Jahrhundert lange Fehde beendigt, ist es doch immer ein positives Resultat jenes
unglücklichen Schicksals, das die Gemüther gebrochen und zur Versöhnung gestimmt
hat. Zwischen den beiden Zweigen der Familie Schroffenstciu dagegen herrschte
uur eine eingebildete Fehde, und man wird unwillig, daß sie nicht mit dem Schluß
angefangen haben. Außerdem sind die Greuel, die aus den Verwickelungen des
Zufalls entspringen, zu willkürlich erdacht; daß die beideu Väter ihre eigenen
Kinder aus Mißverständniß umbringen müssen, schmeckt zu sehr nach der Absicht,
und wir empfinden, daß es nicht nöthig war.

Die Hermanusschlacht fällt in die Zeit des Tugendbundes und der
Fichte'schen Reden an die Deutsche Nation. Der Stoff ist bei dem neu erweckten
Patriotismus unsrer Nation tausendfältig behandelt worden, von Klopstock an-
der ein ziemlich schwülstiges und inhaltloses Bardit daraus machte, bis auf Grabbe,
der es zu einem barocken Genrestück verarbeitete. Dazwischen liegen die roman¬
tischen Nachtstücke eines Fouque, das für deu Theetisch berechnete Schauspiel der
Frau von Weissenthurn n. f. w. Kleist unterscheidet sich von allen übrigen Dichtern
durch die Stimmung, welche allein diesem eigentlich blos epischen Stoffe ein dra¬
matisches Leben geben kann. Der Chernskerheld ist eigentlich ein verschlagener Staats'
manu, dessen That man vom historischen Standpunkte vollkommen billigen kann, der
aber schwer eine dramatisch interessante Gestalt gewinnt. Börne hat in einer
Kritik über Immermann's „Trauerspiel in Tyrol" sehr richtig auseinandergesetzt,
wie mißlich es ist, eine Ueberlistnng des Feindes und eine Vernichtung desselben
durch überlegene Gewalt, gleichsam dnrch einen Naturproceß, dramatisch darstellen
zu wollen. Dieser Eindruck wird aber bei Kleist durch deu wahrhaft diabolischen
Haß, den er seinem Helden leiht, sehr wesentlich verändert. Man kann über
diesen Haß trotz der sittlichen Motivinmg erschrecken,^ man kann ihn mißbilligen,
aber er macht einen dramatischen Eindruck. — Man vergleiche folgende Stellen.
Als Hermann seiner Thusnelde eröffnet, daß die gesammte Römische Besatzung
geschlachtet werden soll, und sie ihn fragt, ob der Schlag rücksichtslos die Guten
wie die Schlechten treffen solle:


Die Guten mit den Schlechten. — Was! Die Guten!
DaS sind die Schlechtesten! Der Rache Keil
Soll sie zuerst vor allen Andern treffen!

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[0343] durch einen Zufall herbeigeführt, aber dieser Zufall ist so beiläufig behandelt, daß man gar nicht daran denkt, und außerdem sind die Persönlichkeiten von der Art, daß sie einen ähnlichen Zufall provociren. In der Familie Schroffenstein dagegen wird mit voller Absicht bei jeder Gelegenheit daran erinnert, daß der ganze Streit um ein Nichts geführt wird. Der Dichter sündigt mit vollem Bewußtsein, und darum werde« wir auch durch den versöhnenden Schluß uicht erhoben. Wenn die Familien Montague und Capulet sich über dem Grabe der beide» Liebenden die Hände reichen, so ist das zwar ein düsterer Friede, aber als Friede, der eine Jahrhundert lange Fehde beendigt, ist es doch immer ein positives Resultat jenes unglücklichen Schicksals, das die Gemüther gebrochen und zur Versöhnung gestimmt hat. Zwischen den beiden Zweigen der Familie Schroffenstciu dagegen herrschte uur eine eingebildete Fehde, und man wird unwillig, daß sie nicht mit dem Schluß angefangen haben. Außerdem sind die Greuel, die aus den Verwickelungen des Zufalls entspringen, zu willkürlich erdacht; daß die beideu Väter ihre eigenen Kinder aus Mißverständniß umbringen müssen, schmeckt zu sehr nach der Absicht, und wir empfinden, daß es nicht nöthig war. Die Hermanusschlacht fällt in die Zeit des Tugendbundes und der Fichte'schen Reden an die Deutsche Nation. Der Stoff ist bei dem neu erweckten Patriotismus unsrer Nation tausendfältig behandelt worden, von Klopstock an- der ein ziemlich schwülstiges und inhaltloses Bardit daraus machte, bis auf Grabbe, der es zu einem barocken Genrestück verarbeitete. Dazwischen liegen die roman¬ tischen Nachtstücke eines Fouque, das für deu Theetisch berechnete Schauspiel der Frau von Weissenthurn n. f. w. Kleist unterscheidet sich von allen übrigen Dichtern durch die Stimmung, welche allein diesem eigentlich blos epischen Stoffe ein dra¬ matisches Leben geben kann. Der Chernskerheld ist eigentlich ein verschlagener Staats' manu, dessen That man vom historischen Standpunkte vollkommen billigen kann, der aber schwer eine dramatisch interessante Gestalt gewinnt. Börne hat in einer Kritik über Immermann's „Trauerspiel in Tyrol" sehr richtig auseinandergesetzt, wie mißlich es ist, eine Ueberlistnng des Feindes und eine Vernichtung desselben durch überlegene Gewalt, gleichsam dnrch einen Naturproceß, dramatisch darstellen zu wollen. Dieser Eindruck wird aber bei Kleist durch deu wahrhaft diabolischen Haß, den er seinem Helden leiht, sehr wesentlich verändert. Man kann über diesen Haß trotz der sittlichen Motivinmg erschrecken,^ man kann ihn mißbilligen, aber er macht einen dramatischen Eindruck. — Man vergleiche folgende Stellen. Als Hermann seiner Thusnelde eröffnet, daß die gesammte Römische Besatzung geschlachtet werden soll, und sie ihn fragt, ob der Schlag rücksichtslos die Guten wie die Schlechten treffen solle: Die Guten mit den Schlechten. — Was! Die Guten! DaS sind die Schlechtesten! Der Rache Keil Soll sie zuerst vor allen Andern treffen! 42*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/343>, abgerufen am 01.09.2024.