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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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u. s. w. die Ereignisse begleitet, ohne die Möglichkeit dessen, was er wünscht, zu
untersuchen: aber an sich ist die Methode doch richtig. Der geschichtliche Proceß
ist einmal kein Naturproceß, wenigstens nicht, so lange wir ihn als geschichtlichen
begreifen, d. h. so lange wir ihn von der Naturgeschichte, über bereu Entwicke¬
lung uus die Gesetze noch unbekannt siud, trennen. Wenn der Kritiker also ein
richtiges Urtheil über den Charakter eines Einzelnen oder einer Partei oder eines
Volkes geben will, so muß er ihre idealen Voraussetzungen und ihre Kräfte mit
der Lage der Umstände, die ihre Thätigkeit herausforderte, im Rechnung bringen.
Der Kritiker hat nicht die Ausgabe wie der Geschichtschreiber, die sämmtlichen
Momente eines Charakters zu einem abgeschlossenen Gemälde zu vereinigen, er
saßt vielmehr von ihm nur diejenige Seite ans, die sich ans seinen Gegenstand
bezieht, aber in dieser Ausfassung kann uns eine mathematisch resigniren Deduction
nicht genügen, wir wollen bestimmte Billigung oder Mißbilligung haben, und
wir wollen die Gründe dafür hören. Ein perennirendes höhnisches Grinsen über
die allgemeine unterschiedlose Erbärmlichkeit fördert uns ebenso wenig, als ein
unausgesetztes verklärtes Lächeln. Eine solche Kritik ist ebenso unfruchtbar, als
sie unrichtig ist.

Zuweilen scheint es so, als habe Bauer irgend ein positives Moment gefaßt.
Er interessirt sich z. B. für die Integrität der Oestreichischen Monarchie, aber
auch das ist eine bloße Abneigung gegen die herrschende Phrase, denn sobald es
an die wirkliche Herstellung der Monarchie geht, zuckt er wieder mitleidig die
Achseln; es fällt ihm nicht ein, daß er sich selbst in jedem Augenblick die Frage
vorlegen müßte: Was würde ich hier thun, oder wozu würde ich den legislativen
Körper, dem ich angehöre, zu veranlassen suchen? und daß der Mangel einer
Antwort ihm auch das Recht nimmt, die Thätigkeit Andrer seiner Kritik zu un¬
terwerfen. Im Grunde kommt die souveraine Ironie, mit der er den Ereignissen
in seiner Stellung im demokratischen Club wie auf seinem kritischen Richterstuhl
folgt, trotz des salbungsvollen Anstrichs, den er sich dabei zu geben weiß, und
trotz des Scharfsinns, den er wirklich dabei aufwendet, aus die Eckeusteherwitze
seiner Berliner Landsleute heraus, die im Kladderadatsch ein angemessenes Organ
gefunden haben. Das falsche Pathos zu verspotten, hat wol der ernste, kalte
und entschiedene Wille das Recht, aber nicht jene nüchterne Kälte, die sich ihrer
eignen Leere freut. Mephistopheles ist nicht der richtige Kritiker des Faust, wie
verfehlt anch das Bestreben seines Helden sein möge.

Es bleibt immer ein eigenes Phänomen unserer Tage, daß dieser rein nega¬
tive Kritiker eine förmliche Schule gegründet hat, die mit seinen Phrasen operirt
und auf seine Worte schwört. Die meisten derselben stehen unter dem Niveau
der Mittelmäßigkeit und wissen Nichts, als ihr Vorbild zu wiederhole". Der
Versasser des dritte" der angezogenen Werke, Herr Walter Rogge, macht eine
vortheilhafte Ausnahme. Bei ihm ist die Entwickelung eine umgekehrte, wie


u. s. w. die Ereignisse begleitet, ohne die Möglichkeit dessen, was er wünscht, zu
untersuchen: aber an sich ist die Methode doch richtig. Der geschichtliche Proceß
ist einmal kein Naturproceß, wenigstens nicht, so lange wir ihn als geschichtlichen
begreifen, d. h. so lange wir ihn von der Naturgeschichte, über bereu Entwicke¬
lung uus die Gesetze noch unbekannt siud, trennen. Wenn der Kritiker also ein
richtiges Urtheil über den Charakter eines Einzelnen oder einer Partei oder eines
Volkes geben will, so muß er ihre idealen Voraussetzungen und ihre Kräfte mit
der Lage der Umstände, die ihre Thätigkeit herausforderte, im Rechnung bringen.
Der Kritiker hat nicht die Ausgabe wie der Geschichtschreiber, die sämmtlichen
Momente eines Charakters zu einem abgeschlossenen Gemälde zu vereinigen, er
saßt vielmehr von ihm nur diejenige Seite ans, die sich ans seinen Gegenstand
bezieht, aber in dieser Ausfassung kann uns eine mathematisch resigniren Deduction
nicht genügen, wir wollen bestimmte Billigung oder Mißbilligung haben, und
wir wollen die Gründe dafür hören. Ein perennirendes höhnisches Grinsen über
die allgemeine unterschiedlose Erbärmlichkeit fördert uns ebenso wenig, als ein
unausgesetztes verklärtes Lächeln. Eine solche Kritik ist ebenso unfruchtbar, als
sie unrichtig ist.

Zuweilen scheint es so, als habe Bauer irgend ein positives Moment gefaßt.
Er interessirt sich z. B. für die Integrität der Oestreichischen Monarchie, aber
auch das ist eine bloße Abneigung gegen die herrschende Phrase, denn sobald es
an die wirkliche Herstellung der Monarchie geht, zuckt er wieder mitleidig die
Achseln; es fällt ihm nicht ein, daß er sich selbst in jedem Augenblick die Frage
vorlegen müßte: Was würde ich hier thun, oder wozu würde ich den legislativen
Körper, dem ich angehöre, zu veranlassen suchen? und daß der Mangel einer
Antwort ihm auch das Recht nimmt, die Thätigkeit Andrer seiner Kritik zu un¬
terwerfen. Im Grunde kommt die souveraine Ironie, mit der er den Ereignissen
in seiner Stellung im demokratischen Club wie auf seinem kritischen Richterstuhl
folgt, trotz des salbungsvollen Anstrichs, den er sich dabei zu geben weiß, und
trotz des Scharfsinns, den er wirklich dabei aufwendet, aus die Eckeusteherwitze
seiner Berliner Landsleute heraus, die im Kladderadatsch ein angemessenes Organ
gefunden haben. Das falsche Pathos zu verspotten, hat wol der ernste, kalte
und entschiedene Wille das Recht, aber nicht jene nüchterne Kälte, die sich ihrer
eignen Leere freut. Mephistopheles ist nicht der richtige Kritiker des Faust, wie
verfehlt anch das Bestreben seines Helden sein möge.

Es bleibt immer ein eigenes Phänomen unserer Tage, daß dieser rein nega¬
tive Kritiker eine förmliche Schule gegründet hat, die mit seinen Phrasen operirt
und auf seine Worte schwört. Die meisten derselben stehen unter dem Niveau
der Mittelmäßigkeit und wissen Nichts, als ihr Vorbild zu wiederhole». Der
Versasser des dritte» der angezogenen Werke, Herr Walter Rogge, macht eine
vortheilhafte Ausnahme. Bei ihm ist die Entwickelung eine umgekehrte, wie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/260>, abgerufen am 27.07.2024.