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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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führt zu einer belletristischen Darstellung/ die sich in novellistischen Erfindungen,
in pikanten Gegensätzen, in der Combination von Bildern aus heterogenen Ge¬
bieten, zuweilen geradezu in studentischen Schnurren bewegt, die durch ihre sehr
guten Einfälle, z. B. Publicum für Volk, Honoratioren für Gemäßigte u. s. w.
amustrt, durch die große komische Kraft, mit welcher die Zerfahrenheit, Gedanken¬
losigkeit und Furcht vor dem Bestimmter, welche die Masse nicht nur im Jahre
I8i8, sondern immer charakterisirt, wo sie handelnd auftreten will, interessirt und
spannt; die es aber nicht blos mit der Aufgabe der hohem Geschichtschreibung,
Schuld und Recht gegen einander abzuwägen, zu unterscheiden, was den Ver¬
hältnissen und was den Menschen zuzuschreiben ist, im höchsten Grade leicht nimmt,
sondern anch jenes erste Erforderniß aller Geschichtschreibung übersteht, daß mau
klar und deutlich referiren soll. Wer die Geschichte jener Zeit nicht aus eigener
Anschauung kennt, wird aus dieser Darstellung nicht errathen, um was es sich
eigentlich handelt.

v Gehen wir aber von dieser Anforderung ab, da Niemand daran zweifeln
wird, daß Bruno Bauer zum Geschichtschreiber kein Talent hat, und betrachten
wir es lediglich als Werk der Kritik, so werden wir an diese die Anforderung
stellen müssen, daß sie von einem klar ausgesprochenen Gesichtspunkt ausgehe.
Deun eine gewisse Berechtigung seines Standpunkts hat jeder Kritiker, vom Phi¬
losophen bis zum Schneider und Bedienten herunter, aber wir werden mit Recht
verlangen, daß diese Standpunkte nicht dnrch einander gewirrt werden. Der Ge¬
schichtschreiber hat allerdings das Recht, mannigfaltige Gesichtspunkte anzuwenden,
weil sein höchster Beruf ein künstlerischer ist, weil er Totalität des Lebens darzu¬
stellen hat; aber der Kritiker muß uus die Grundsätze angeben, die ihn bei seinem
Urtheil leiten; er darf nicht zugleich Philosoph und Bedienter sein. Dieser kri¬
tische Halt, die Integrität, Sicherheit und Conststenz des Urtheils, das Positive
und Bleibende des Gedankens, fehlt bei Bruno Bauer. So wie der Historiker
Nichts ist ohne das Interesse an den Personen und Thatsachen, so ist der Kritiker
Nichts ohne eine lebendige Vorstellung von dem, was sein soll, von dem, was
unter diesen Umständen sein soll. Dieser Idealismus besteht keineswegs darin,
daß man sich ein allgemein gehaltenes Bild von dem vollkommenen Zustand der
Menschheit entwirft und dieses der Wirklichkeit entgegenhält, sondern daß man in
der Wirklichkeit die Keime einer zukünftigen Entwickelung und die Widersprüche,
die zu einer fruchtbaren Auflösung treiben, herausfindet. Ohne ein lebendiges
Interesse an dem Fortgang der Entwickelung ist man nicht einmal im Stande,
eine richtige Auswahl nnter den Thatsachen und den bezeichnenden Charakter¬
zügen zu treffen; man ist hilflos und von jedem augenblicklichen Einfall abhängig.
Seit der Hegelschen Philosophie ist man unbillig geworden gegen den alten
Pragmatismus. Dieser hatte zwar häufig genug ein schulmeisterliches Ansehen,
wenn er mit seinem beständigen "wäre das geschehen", "hätte man das gethan",


führt zu einer belletristischen Darstellung/ die sich in novellistischen Erfindungen,
in pikanten Gegensätzen, in der Combination von Bildern aus heterogenen Ge¬
bieten, zuweilen geradezu in studentischen Schnurren bewegt, die durch ihre sehr
guten Einfälle, z. B. Publicum für Volk, Honoratioren für Gemäßigte u. s. w.
amustrt, durch die große komische Kraft, mit welcher die Zerfahrenheit, Gedanken¬
losigkeit und Furcht vor dem Bestimmter, welche die Masse nicht nur im Jahre
I8i8, sondern immer charakterisirt, wo sie handelnd auftreten will, interessirt und
spannt; die es aber nicht blos mit der Aufgabe der hohem Geschichtschreibung,
Schuld und Recht gegen einander abzuwägen, zu unterscheiden, was den Ver¬
hältnissen und was den Menschen zuzuschreiben ist, im höchsten Grade leicht nimmt,
sondern anch jenes erste Erforderniß aller Geschichtschreibung übersteht, daß mau
klar und deutlich referiren soll. Wer die Geschichte jener Zeit nicht aus eigener
Anschauung kennt, wird aus dieser Darstellung nicht errathen, um was es sich
eigentlich handelt.

v Gehen wir aber von dieser Anforderung ab, da Niemand daran zweifeln
wird, daß Bruno Bauer zum Geschichtschreiber kein Talent hat, und betrachten
wir es lediglich als Werk der Kritik, so werden wir an diese die Anforderung
stellen müssen, daß sie von einem klar ausgesprochenen Gesichtspunkt ausgehe.
Deun eine gewisse Berechtigung seines Standpunkts hat jeder Kritiker, vom Phi¬
losophen bis zum Schneider und Bedienten herunter, aber wir werden mit Recht
verlangen, daß diese Standpunkte nicht dnrch einander gewirrt werden. Der Ge¬
schichtschreiber hat allerdings das Recht, mannigfaltige Gesichtspunkte anzuwenden,
weil sein höchster Beruf ein künstlerischer ist, weil er Totalität des Lebens darzu¬
stellen hat; aber der Kritiker muß uus die Grundsätze angeben, die ihn bei seinem
Urtheil leiten; er darf nicht zugleich Philosoph und Bedienter sein. Dieser kri¬
tische Halt, die Integrität, Sicherheit und Conststenz des Urtheils, das Positive
und Bleibende des Gedankens, fehlt bei Bruno Bauer. So wie der Historiker
Nichts ist ohne das Interesse an den Personen und Thatsachen, so ist der Kritiker
Nichts ohne eine lebendige Vorstellung von dem, was sein soll, von dem, was
unter diesen Umständen sein soll. Dieser Idealismus besteht keineswegs darin,
daß man sich ein allgemein gehaltenes Bild von dem vollkommenen Zustand der
Menschheit entwirft und dieses der Wirklichkeit entgegenhält, sondern daß man in
der Wirklichkeit die Keime einer zukünftigen Entwickelung und die Widersprüche,
die zu einer fruchtbaren Auflösung treiben, herausfindet. Ohne ein lebendiges
Interesse an dem Fortgang der Entwickelung ist man nicht einmal im Stande,
eine richtige Auswahl nnter den Thatsachen und den bezeichnenden Charakter¬
zügen zu treffen; man ist hilflos und von jedem augenblicklichen Einfall abhängig.
Seit der Hegelschen Philosophie ist man unbillig geworden gegen den alten
Pragmatismus. Dieser hatte zwar häufig genug ein schulmeisterliches Ansehen,
wenn er mit seinem beständigen „wäre das geschehen", „hätte man das gethan",


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/259>, abgerufen am 01.09.2024.