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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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die sittliche Grundanschauung im Wesentlichen eine gegebene, und die Charaktere,
welche dagegen verstießen, erhielten augenblicklich im Bewußtsein des Publicums
ihre richtige Stellung. Heut zu Tage dagegen schafft sich jedes Individuum seine
eigene Philosophie, seinen eigenen Maßstab für das, was man thun und empfinden
soll. Daraus ergiebt sich für den Dichter die Nothwendigkeit, gründlicher zu
motiviren. Er kann gar keine Voraussetzungen machen, sondern muß uns in je¬
dem Charakterbild eine psychologische Totalität entwickeln. In diese Entwickelung
verliert er sich dann so, daß er sich und uns in das Labyrinth der innern Welt
verschließt, und sowol die Aufmerksamkeit auf die Handlung verwirrt, als anch
die Unmittelbarkeit des Producirens einbüßt. Man kann von den neueren Dichtern
sagen, wie Hamlet von sich selber: Der angeborenen Farbe der Entschließung
wird des Gedankens Blässe angekränkelt. Die Dichter legen in ihre Charaktere
so viele Intentionen hinein, daß sie darüber jenen Jnstinct verlieren, der ihnen
in jedem Augenblick mit untrüglicher Gewißheit sagt, wie ihre Figuren empfinde"
und wie sie sich benehmen müssen. Sie behaupten ihren eigenen Schöpfnnge"
gegenüber die nämliche Skepsis und Ironie, die sie dem sittlichen Glauben ent¬
gegentragen, und darum überzeugen sie das Publicum, was doch beim Drama
die Hauptsache ist, nicht unmittelbar durch die Wahrheit ihres Lebens, sondern
sie stellen ihm die ungerechtfertigte Aufgabe, die Gestalten des Dichters in sich
selber neu zu reproduciren nutz ihre Wahrheit durch Nachdenken und Ueberlegung,
zu erörtern. Diese letztere Thätigkeit des Publicums wird auch der vollkommene
Dichter bis zu einer gewissen Grenze in Anspruch nehmen, wenn er nicht, wie
die Spanier und Franzosen, sich lediglich ans die Intrigue und die Leidenschaft
beschränkt. Aber ihr Alles zu überlassen, ist ein Verkennen der dramatische"
Kunst, welches endlich dazu führt, daß man die Stücke nicht mehr sehen, sondern
uur lesen mag.'

Taylor geht es wie manchen. Portraitmalern, die in ihr Portrait so inet
feine Charakterzüge aufnehmen, daß der eigentliche Charakter des Gesichts M
verwischt. Er macht für jeden seiner Charaktere die gewissenhaftesten psycholo¬
gischen Studien; aber man merkt diesen Studien an, daß sie auf einer Intention
beruhen. Wir können sie uns zwar dnrch Nachdenken deutlich machen, aber wir
werden nicht fortgerissen. Fast alle seine Helden geberden sich wie Hamlet oder
Maebeth im zweiten Theile dieser Tragödie.

Allein diese Stücke haben doch ihren Werth. Die Sprache ist ernst und
edel, die Gedanken inhaltreich und zum Theil frappirend, und die Empfindungen
zwar ausgeklügelt, aber mit großem Scharfsinn und großer Weltkenntniß. Sie
machen einen um so bessern Eindruck, wenn man sie mit der liederlichen Arbel
der französischen Romantiker vergleicht, die sich ähnliche Probleme stellen, die aber
bei der Ausführung mit der größten Gewissenlosigkeit zu Werke gehen.
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Das erste Drama Taylors war Jsaak Comnenus. Es hatte keinen E


die sittliche Grundanschauung im Wesentlichen eine gegebene, und die Charaktere,
welche dagegen verstießen, erhielten augenblicklich im Bewußtsein des Publicums
ihre richtige Stellung. Heut zu Tage dagegen schafft sich jedes Individuum seine
eigene Philosophie, seinen eigenen Maßstab für das, was man thun und empfinden
soll. Daraus ergiebt sich für den Dichter die Nothwendigkeit, gründlicher zu
motiviren. Er kann gar keine Voraussetzungen machen, sondern muß uns in je¬
dem Charakterbild eine psychologische Totalität entwickeln. In diese Entwickelung
verliert er sich dann so, daß er sich und uns in das Labyrinth der innern Welt
verschließt, und sowol die Aufmerksamkeit auf die Handlung verwirrt, als anch
die Unmittelbarkeit des Producirens einbüßt. Man kann von den neueren Dichtern
sagen, wie Hamlet von sich selber: Der angeborenen Farbe der Entschließung
wird des Gedankens Blässe angekränkelt. Die Dichter legen in ihre Charaktere
so viele Intentionen hinein, daß sie darüber jenen Jnstinct verlieren, der ihnen
in jedem Augenblick mit untrüglicher Gewißheit sagt, wie ihre Figuren empfinde»
und wie sie sich benehmen müssen. Sie behaupten ihren eigenen Schöpfnnge»
gegenüber die nämliche Skepsis und Ironie, die sie dem sittlichen Glauben ent¬
gegentragen, und darum überzeugen sie das Publicum, was doch beim Drama
die Hauptsache ist, nicht unmittelbar durch die Wahrheit ihres Lebens, sondern
sie stellen ihm die ungerechtfertigte Aufgabe, die Gestalten des Dichters in sich
selber neu zu reproduciren nutz ihre Wahrheit durch Nachdenken und Ueberlegung,
zu erörtern. Diese letztere Thätigkeit des Publicums wird auch der vollkommene
Dichter bis zu einer gewissen Grenze in Anspruch nehmen, wenn er nicht, wie
die Spanier und Franzosen, sich lediglich ans die Intrigue und die Leidenschaft
beschränkt. Aber ihr Alles zu überlassen, ist ein Verkennen der dramatische"
Kunst, welches endlich dazu führt, daß man die Stücke nicht mehr sehen, sondern
uur lesen mag.'

Taylor geht es wie manchen. Portraitmalern, die in ihr Portrait so inet
feine Charakterzüge aufnehmen, daß der eigentliche Charakter des Gesichts M
verwischt. Er macht für jeden seiner Charaktere die gewissenhaftesten psycholo¬
gischen Studien; aber man merkt diesen Studien an, daß sie auf einer Intention
beruhen. Wir können sie uns zwar dnrch Nachdenken deutlich machen, aber wir
werden nicht fortgerissen. Fast alle seine Helden geberden sich wie Hamlet oder
Maebeth im zweiten Theile dieser Tragödie.

Allein diese Stücke haben doch ihren Werth. Die Sprache ist ernst und
edel, die Gedanken inhaltreich und zum Theil frappirend, und die Empfindungen
zwar ausgeklügelt, aber mit großem Scharfsinn und großer Weltkenntniß. Sie
machen einen um so bessern Eindruck, wenn man sie mit der liederlichen Arbel
der französischen Romantiker vergleicht, die sich ähnliche Probleme stellen, die aber
bei der Ausführung mit der größten Gewissenlosigkeit zu Werke gehen.
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Das erste Drama Taylors war Jsaak Comnenus. Es hatte keinen E


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/446>, abgerufen am 23.07.2024.