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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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stehen alle jene Greuel, deren sich keine Religion hat entschlagen können. So¬
bald wir nicht mehr in unsrem eigenen Herzen die Quelle des Rechts, nicht mehr
in dem natürlichen Gewissen die Stimme der Wahrheit vernehmen, sondern nach
einem äußerlichen Gebot suchen, ist jeder Verruchtheit Thor und Thür geöffnet.

Der zweite Grund ist die Theorie des Opfers, mit der sich de Maistre am
liebsten beschäftigt, und die er auch in einer besondern Nachschrift weiter ausge¬
führt hat. Das Leiden des Gerechten leistet nämlich nicht blos für ihn, sondern
auch für den Schuldigen Genugthuung. Das Heil kommt in die Welt nur durch
das Vink, darum ist auch der Krieg eine göttliche Einrichtung. Diese Idee der
Rechtfertigung durch Opfer findet sich in allen Religionen, eben so wie die Idee
des Sündenfalls, und Moses, der sich im Uebrigen streng von den heidnischen
Vorstellungen unterschied, hat die Idee der Substitution beibehalten. Das Chri¬
stenthum hat diesen Glauben gerechtfertigt, ohne ihn weiter zu erklären. Der
Tod Gottes am Krenz hat auf eine Weise, die Gottes am würdigsten war, be¬
wiesen, was der Mensch immer geglaubt hat, auch ehe es ihm verkündigt war:
daß er in einer vollständigen Verderbnis) lebe, daß die Verdienste des Unschuldi¬
gen dem Schuldigen zugerechnet werden, und daß die Erlösung nur durch das
Blut kommt.

Daß diese Opfertheorie ihre sehr bedenklichen Seiten hat, ergiebt sich sofort
bei ihrer Anwendung. De Maistre findet keinen Anstand, wenigstens bis zu
einer gewissen Grenze hin die massenhaften Schlächtereien des indischen Cultus,
das Verbrennen der Weiber und tgi. zu rechtfertigen, und es ist charakteristisch,
daß auch bei dieser Rechtfertigung die Staatsraison eine große Rolle spielt.

Die übrigen Ansichten, die in diesem Buche entwickelt werden, sind zwar selt¬
en genug, haben aber weniger praktische Bedeutung. Der von allen Mystiker"
ausgeführte Gedanke, daß alle bedeutenderen Functionen des Geistes, z. B. die
Sprache, göttlichen Ursprungs seien, daß der Urzustand der Menschheit als die
absolute Vollkommenheit betrachtet werden müsse, erleuchtet vou jenem über-
"atürlicheu Licht, von dem selbst das lügenhafte Griechenland wider seinen Willen
Zeugniß hat ablege" müssen, welches sich doch sonst in der Verfälschung der Ge¬
richte Alles erlaubt, und daß die Wildheit und Barbarei nicht der Naturzustand
^r Menschen, sondern ein Resultat des Sündenfalls gewesen, wird vielfach bespro¬
chen und durch eine mehr als wunderliche Philologie begründet. Die Wieder¬
herstellung einer absoluten Autorität ist daher zugleich die Rückkehr zum Natur¬
zustand. Gegen die neueren naturwissenschaftlichen Forschungen, die sich bemüht
haben, die Wahrheit der biblischen Erzählungen nachzuweisen, zeigt sich de Maistre
ziemlich gleichgiltig, denn die Wahrheit derselben habe der vernünftige Mensch
^"nehmen müssen, auch wenn sie der Wissenschaft widersprächen, da sie einmal
thatsächlich feststanden. Daß es ein Ding gebe, was man historische Kritik nennt,
scheint er dabei ganz vergessen zu haben. Endlich werden alle scheinbaren Wider-


Krenzbvten. IV, ->8ni. " ii;

stehen alle jene Greuel, deren sich keine Religion hat entschlagen können. So¬
bald wir nicht mehr in unsrem eigenen Herzen die Quelle des Rechts, nicht mehr
in dem natürlichen Gewissen die Stimme der Wahrheit vernehmen, sondern nach
einem äußerlichen Gebot suchen, ist jeder Verruchtheit Thor und Thür geöffnet.

Der zweite Grund ist die Theorie des Opfers, mit der sich de Maistre am
liebsten beschäftigt, und die er auch in einer besondern Nachschrift weiter ausge¬
führt hat. Das Leiden des Gerechten leistet nämlich nicht blos für ihn, sondern
auch für den Schuldigen Genugthuung. Das Heil kommt in die Welt nur durch
das Vink, darum ist auch der Krieg eine göttliche Einrichtung. Diese Idee der
Rechtfertigung durch Opfer findet sich in allen Religionen, eben so wie die Idee
des Sündenfalls, und Moses, der sich im Uebrigen streng von den heidnischen
Vorstellungen unterschied, hat die Idee der Substitution beibehalten. Das Chri¬
stenthum hat diesen Glauben gerechtfertigt, ohne ihn weiter zu erklären. Der
Tod Gottes am Krenz hat auf eine Weise, die Gottes am würdigsten war, be¬
wiesen, was der Mensch immer geglaubt hat, auch ehe es ihm verkündigt war:
daß er in einer vollständigen Verderbnis) lebe, daß die Verdienste des Unschuldi¬
gen dem Schuldigen zugerechnet werden, und daß die Erlösung nur durch das
Blut kommt.

Daß diese Opfertheorie ihre sehr bedenklichen Seiten hat, ergiebt sich sofort
bei ihrer Anwendung. De Maistre findet keinen Anstand, wenigstens bis zu
einer gewissen Grenze hin die massenhaften Schlächtereien des indischen Cultus,
das Verbrennen der Weiber und tgi. zu rechtfertigen, und es ist charakteristisch,
daß auch bei dieser Rechtfertigung die Staatsraison eine große Rolle spielt.

Die übrigen Ansichten, die in diesem Buche entwickelt werden, sind zwar selt¬
en genug, haben aber weniger praktische Bedeutung. Der von allen Mystiker»
ausgeführte Gedanke, daß alle bedeutenderen Functionen des Geistes, z. B. die
Sprache, göttlichen Ursprungs seien, daß der Urzustand der Menschheit als die
absolute Vollkommenheit betrachtet werden müsse, erleuchtet vou jenem über-
»atürlicheu Licht, von dem selbst das lügenhafte Griechenland wider seinen Willen
Zeugniß hat ablege» müssen, welches sich doch sonst in der Verfälschung der Ge¬
richte Alles erlaubt, und daß die Wildheit und Barbarei nicht der Naturzustand
^r Menschen, sondern ein Resultat des Sündenfalls gewesen, wird vielfach bespro¬
chen und durch eine mehr als wunderliche Philologie begründet. Die Wieder¬
herstellung einer absoluten Autorität ist daher zugleich die Rückkehr zum Natur¬
zustand. Gegen die neueren naturwissenschaftlichen Forschungen, die sich bemüht
haben, die Wahrheit der biblischen Erzählungen nachzuweisen, zeigt sich de Maistre
ziemlich gleichgiltig, denn die Wahrheit derselben habe der vernünftige Mensch
^»nehmen müssen, auch wenn sie der Wissenschaft widersprächen, da sie einmal
thatsächlich feststanden. Daß es ein Ding gebe, was man historische Kritik nennt,
scheint er dabei ganz vergessen zu haben. Endlich werden alle scheinbaren Wider-


Krenzbvten. IV, ->8ni. " ii;
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[0357] stehen alle jene Greuel, deren sich keine Religion hat entschlagen können. So¬ bald wir nicht mehr in unsrem eigenen Herzen die Quelle des Rechts, nicht mehr in dem natürlichen Gewissen die Stimme der Wahrheit vernehmen, sondern nach einem äußerlichen Gebot suchen, ist jeder Verruchtheit Thor und Thür geöffnet. Der zweite Grund ist die Theorie des Opfers, mit der sich de Maistre am liebsten beschäftigt, und die er auch in einer besondern Nachschrift weiter ausge¬ führt hat. Das Leiden des Gerechten leistet nämlich nicht blos für ihn, sondern auch für den Schuldigen Genugthuung. Das Heil kommt in die Welt nur durch das Vink, darum ist auch der Krieg eine göttliche Einrichtung. Diese Idee der Rechtfertigung durch Opfer findet sich in allen Religionen, eben so wie die Idee des Sündenfalls, und Moses, der sich im Uebrigen streng von den heidnischen Vorstellungen unterschied, hat die Idee der Substitution beibehalten. Das Chri¬ stenthum hat diesen Glauben gerechtfertigt, ohne ihn weiter zu erklären. Der Tod Gottes am Krenz hat auf eine Weise, die Gottes am würdigsten war, be¬ wiesen, was der Mensch immer geglaubt hat, auch ehe es ihm verkündigt war: daß er in einer vollständigen Verderbnis) lebe, daß die Verdienste des Unschuldi¬ gen dem Schuldigen zugerechnet werden, und daß die Erlösung nur durch das Blut kommt. Daß diese Opfertheorie ihre sehr bedenklichen Seiten hat, ergiebt sich sofort bei ihrer Anwendung. De Maistre findet keinen Anstand, wenigstens bis zu einer gewissen Grenze hin die massenhaften Schlächtereien des indischen Cultus, das Verbrennen der Weiber und tgi. zu rechtfertigen, und es ist charakteristisch, daß auch bei dieser Rechtfertigung die Staatsraison eine große Rolle spielt. Die übrigen Ansichten, die in diesem Buche entwickelt werden, sind zwar selt¬ en genug, haben aber weniger praktische Bedeutung. Der von allen Mystiker» ausgeführte Gedanke, daß alle bedeutenderen Functionen des Geistes, z. B. die Sprache, göttlichen Ursprungs seien, daß der Urzustand der Menschheit als die absolute Vollkommenheit betrachtet werden müsse, erleuchtet vou jenem über- »atürlicheu Licht, von dem selbst das lügenhafte Griechenland wider seinen Willen Zeugniß hat ablege» müssen, welches sich doch sonst in der Verfälschung der Ge¬ richte Alles erlaubt, und daß die Wildheit und Barbarei nicht der Naturzustand ^r Menschen, sondern ein Resultat des Sündenfalls gewesen, wird vielfach bespro¬ chen und durch eine mehr als wunderliche Philologie begründet. Die Wieder¬ herstellung einer absoluten Autorität ist daher zugleich die Rückkehr zum Natur¬ zustand. Gegen die neueren naturwissenschaftlichen Forschungen, die sich bemüht haben, die Wahrheit der biblischen Erzählungen nachzuweisen, zeigt sich de Maistre ziemlich gleichgiltig, denn die Wahrheit derselben habe der vernünftige Mensch ^»nehmen müssen, auch wenn sie der Wissenschaft widersprächen, da sie einmal thatsächlich feststanden. Daß es ein Ding gebe, was man historische Kritik nennt, scheint er dabei ganz vergessen zu haben. Endlich werden alle scheinbaren Wider- Krenzbvten. IV, ->8ni. " ii;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/357>, abgerufen am 23.07.2024.