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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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Theologie leiden sollen, und die nnr ausnahmsweise einen Sinn für das Gute
und Höhere haben. Sogar die Bibelgesellschaften sind nach ihm vorzugsweise
aus eingefleischte" Feinden Gottes zusammengesetzt. Nicht viel besser kommen die
Jansenisten weg, und selbst Pascal wird einige Male scharf mitgenommen. Auch
die modernen Mystiker werden getadelt, und hier zeigt es sich recht, daß der
Grund der religiösen Reaction bei de Maistre ein ganz anderer ist, als bei dem
größten Theil seiner Zeitgenossen. Unter den früheren Vertheidigern des Chri¬
stenthums hatte keiner einen größern Uns erlangt, als Heinrich Graf von Se.
Martin.") De Maistre nimmt keinen Anstand, ihn anzugreifen, weil sein Stre¬
ben nach dem Göttlichen mit jener Vermessenheit des Verstandes und des Her¬
zens durchgeführt war, die in der Welt nicht den Frieden, sondern den Krieg
hervorruft, während bei de Maistre die Hauptsache immer der Kampf gegen den
revolurionaireu Geist des Zeitalters ist.

Der Hauptgegenstand seiner Untersuchung ist die Frage: Wie ist es mit
Gottes Weltordnung in Uebereinstimmung zu bringen, daß der Gerechte auf Er¬
den leidet? Die Antwort ist folgende. Einmal wird schon ans Erden durch das bür¬
gerliche Recht in der Hauptsache die Weltordnung hergestellt. In dieser Ausfüh¬
rung kommen jene bekannten Sätze vor, daß der Henker das eigentliche Band
der menschlichen Gesellschaft sei, und daß, wenn man ihn abschaffte, die Welt in
das Chaos zurückfiele. -- Sodann wird schon durch deu gesunden Menschenverstand
das Fegefeuer als die natürliche und nothwendige Ergänzung der irdischen Gerech¬
tigkeit gegeben. -- Ferner leidet der Gerechte, der doch nur uneigentlich so ge¬
nannt werden kann, da wir eigentlich alle Sünder sind, nicht als Gerechter, son¬
dern als Mensch. Die Gesetze der physischen wie der moralischen Welt sind für
alle gegeben, und dadurch die Erbsünde in die Natur die allgemeine Verderbniß
eingetreten ist, das physische Leiden und die moralische UnVollkommenheit, die den
Menschen eben so befleckt hat wie die Natur, so kann sich der Einzelne dieser
allgemeinen Regel uicht entziehen. In der physischen wie in der moralischen
Ordnung ist das allgemeine Gesetz, welches so alt ist wie das Uebel überhaupt:
daß nur im Schmerz das Heilmittel der Unordnung enthalten sei.

Bis dahin ist die Deduction handgreiflich und eigentlich nicht schädlich. N"n
kommen aber zwei Gründe, welche uus die ganze Gefahr des supranatnralistischen
Denkens andeuten.

Der erste besteht darin, daß der Mensch Unrecht thue, seine Begriffe von
Gerechtigkeit auf Gott anzuwenden. Das Recht sei nicht etwas für sich Bestehen¬
des, sondern nur ein Ausfluß des göttlichen Wollens, der, wenn er sich mit dem¬
selben in Widerspruch setze, keine Geltung mehr habe. -- Auf diese Weise ent-



*) Seine Hauptschristen sind: Des srreurs et ne 1" vvritv, 1775; Tadloau nata-öl <>""
rapport" qui existent ovtrv visu et I'nniveis, 1782, und I'Iiistoiro ela üvsir, 1802. Er starb
"0 Jahre alt.

Theologie leiden sollen, und die nnr ausnahmsweise einen Sinn für das Gute
und Höhere haben. Sogar die Bibelgesellschaften sind nach ihm vorzugsweise
aus eingefleischte» Feinden Gottes zusammengesetzt. Nicht viel besser kommen die
Jansenisten weg, und selbst Pascal wird einige Male scharf mitgenommen. Auch
die modernen Mystiker werden getadelt, und hier zeigt es sich recht, daß der
Grund der religiösen Reaction bei de Maistre ein ganz anderer ist, als bei dem
größten Theil seiner Zeitgenossen. Unter den früheren Vertheidigern des Chri¬
stenthums hatte keiner einen größern Uns erlangt, als Heinrich Graf von Se.
Martin.") De Maistre nimmt keinen Anstand, ihn anzugreifen, weil sein Stre¬
ben nach dem Göttlichen mit jener Vermessenheit des Verstandes und des Her¬
zens durchgeführt war, die in der Welt nicht den Frieden, sondern den Krieg
hervorruft, während bei de Maistre die Hauptsache immer der Kampf gegen den
revolurionaireu Geist des Zeitalters ist.

Der Hauptgegenstand seiner Untersuchung ist die Frage: Wie ist es mit
Gottes Weltordnung in Uebereinstimmung zu bringen, daß der Gerechte auf Er¬
den leidet? Die Antwort ist folgende. Einmal wird schon ans Erden durch das bür¬
gerliche Recht in der Hauptsache die Weltordnung hergestellt. In dieser Ausfüh¬
rung kommen jene bekannten Sätze vor, daß der Henker das eigentliche Band
der menschlichen Gesellschaft sei, und daß, wenn man ihn abschaffte, die Welt in
das Chaos zurückfiele. — Sodann wird schon durch deu gesunden Menschenverstand
das Fegefeuer als die natürliche und nothwendige Ergänzung der irdischen Gerech¬
tigkeit gegeben. — Ferner leidet der Gerechte, der doch nur uneigentlich so ge¬
nannt werden kann, da wir eigentlich alle Sünder sind, nicht als Gerechter, son¬
dern als Mensch. Die Gesetze der physischen wie der moralischen Welt sind für
alle gegeben, und dadurch die Erbsünde in die Natur die allgemeine Verderbniß
eingetreten ist, das physische Leiden und die moralische UnVollkommenheit, die den
Menschen eben so befleckt hat wie die Natur, so kann sich der Einzelne dieser
allgemeinen Regel uicht entziehen. In der physischen wie in der moralischen
Ordnung ist das allgemeine Gesetz, welches so alt ist wie das Uebel überhaupt:
daß nur im Schmerz das Heilmittel der Unordnung enthalten sei.

Bis dahin ist die Deduction handgreiflich und eigentlich nicht schädlich. N»n
kommen aber zwei Gründe, welche uus die ganze Gefahr des supranatnralistischen
Denkens andeuten.

Der erste besteht darin, daß der Mensch Unrecht thue, seine Begriffe von
Gerechtigkeit auf Gott anzuwenden. Das Recht sei nicht etwas für sich Bestehen¬
des, sondern nur ein Ausfluß des göttlichen Wollens, der, wenn er sich mit dem¬
selben in Widerspruch setze, keine Geltung mehr habe. — Auf diese Weise ent-



*) Seine Hauptschristen sind: Des srreurs et ne 1» vvritv, 1775; Tadloau nata-öl <>««
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/356>, abgerufen am 23.07.2024.