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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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ken getreten, und in der Reihe ihrer Gegner zeichneten sich Fontanes und Cha¬
teaubriand aus, welcher Lichtere den Geist des Christenthums an die Stelle der
menschlichen Perfectibilität setzte und mit höflicher Malice nachwies, wie in jener
Schrift überall die Ausführung hinter der Intention znvückblieb.

Im Jahre 1802 erschien die Delphine. Das unmittelbare Vorbild der¬
selben war augenscheinlich die neue Heloise, aber es war in künstlerischen Bezie¬
hungen bei Weitem übertroffen. Wer heut zu Tage die neue Heloise gelesen hat
-- ein Verdienst, dessen sich unter den zahlreichen Verehrern Rousseau's nicht
gerade viele werden rühmen können -- wird eingestehen, daß es eigentlich ein
recht schlechtes Buch ist. Es ist ein endloses, ermüdendes Gewebe der trocken¬
sten Kasuistik. Das starre Gespenst der Pflicht auf der einen, die Leidenschaft
auf der andern Seite, und zwischen beiden eine ewig berechnende Reflexion, die
nicht nur zu 'keinem Ziel führt, sondern die auch in jedem Augenblicke die Wahr¬
heit des Gefühls unterdrückt. So lange man die kalte Pflicht als etwas außer¬
halb der menschlichen Neigung Bestehendes betrachtet, wird die sittliche Dialektik
sehr monoton und unerquicklich sein, und Rousseau würde wenigstens für unsre
Zeit mit seinen einleitenden Worten im Unrecht bleiben, daß jedes junge Mädchen,
wenn es die neue Heloise aufschlüge, verloren sei, denn es dürfte sich heut zu Tage kaum
ein junges Mädchen finden, welches den Muth hätte, diese langweiligen Conflicte
zwischen Neigung und Pflicht bis zu Ende zu verfolgen. Keine von den vier
handelnden Personen erregt unser Interesse, weder Julie, noch ihr Mann, noch
Se. Preux, am allerwenigsten der Lord, und die Moral ist wenigstens sehr zwei-
' felhast, denn das ideale Verhältniß zwischen dem Hausfreunde und dem Ehepaar,
mit weichem der Roman bis zur zufälligen Katastrophe schließt, ist ein im höchste"
Grade ungesundes. Man muß diesen trotz seiner Extravaganz nüchternen Roman
mit dem Werther vergleichen, um die ganze Kunst unsres deutschen Dichters zu
fühlen. Hier ist Alles unmittelbar und real empfunden, und wirkt ans den Leser
mit der Kraft einer unabweisbaren Ueberzeugung; in der neuen Heloise dagegen
ist Alles berechnet und ausgeklügelt.

Die Delphine ist ein großer Fortschritt, schon in der Form, obgleich die
Methode, die ganze Geschichte in Briefen darzustellen, fehlerhaft ist, denn es wird
nicht allem die Wahrscheinlichkeit verletzt, weil die handelnden Personen in den
unpassendsten Augenblicken die Feder ergreifen müssen, um angeblich ihren Ver¬
trauten, eigentlich aber den Leser, in Kenntniß von dem Vorgefallenen zu setzen,
sondern es wird auch in der Zeichnung der Charaktere eine unangenehme Absicht
lichkeit hervorgebracht. Ein jeder Charakter setzt sich von vorn herein in Positur,
und sucht Alles, was für sein Verständniß von Bedeutuug sein kann, gleich ans
einmal anzubringen. Abgesehen aber von diesem Fehler, der wenigstens nicht
ganz vermieden ist, haben alle Personen das Interesse der Wahrheit; man sieht,
daß die Dichterin sich ihre Probleme nicht ausgeklügelt, sondern sie ans der An-


ken getreten, und in der Reihe ihrer Gegner zeichneten sich Fontanes und Cha¬
teaubriand aus, welcher Lichtere den Geist des Christenthums an die Stelle der
menschlichen Perfectibilität setzte und mit höflicher Malice nachwies, wie in jener
Schrift überall die Ausführung hinter der Intention znvückblieb.

Im Jahre 1802 erschien die Delphine. Das unmittelbare Vorbild der¬
selben war augenscheinlich die neue Heloise, aber es war in künstlerischen Bezie¬
hungen bei Weitem übertroffen. Wer heut zu Tage die neue Heloise gelesen hat
— ein Verdienst, dessen sich unter den zahlreichen Verehrern Rousseau's nicht
gerade viele werden rühmen können — wird eingestehen, daß es eigentlich ein
recht schlechtes Buch ist. Es ist ein endloses, ermüdendes Gewebe der trocken¬
sten Kasuistik. Das starre Gespenst der Pflicht auf der einen, die Leidenschaft
auf der andern Seite, und zwischen beiden eine ewig berechnende Reflexion, die
nicht nur zu 'keinem Ziel führt, sondern die auch in jedem Augenblicke die Wahr¬
heit des Gefühls unterdrückt. So lange man die kalte Pflicht als etwas außer¬
halb der menschlichen Neigung Bestehendes betrachtet, wird die sittliche Dialektik
sehr monoton und unerquicklich sein, und Rousseau würde wenigstens für unsre
Zeit mit seinen einleitenden Worten im Unrecht bleiben, daß jedes junge Mädchen,
wenn es die neue Heloise aufschlüge, verloren sei, denn es dürfte sich heut zu Tage kaum
ein junges Mädchen finden, welches den Muth hätte, diese langweiligen Conflicte
zwischen Neigung und Pflicht bis zu Ende zu verfolgen. Keine von den vier
handelnden Personen erregt unser Interesse, weder Julie, noch ihr Mann, noch
Se. Preux, am allerwenigsten der Lord, und die Moral ist wenigstens sehr zwei-
' felhast, denn das ideale Verhältniß zwischen dem Hausfreunde und dem Ehepaar,
mit weichem der Roman bis zur zufälligen Katastrophe schließt, ist ein im höchste»
Grade ungesundes. Man muß diesen trotz seiner Extravaganz nüchternen Roman
mit dem Werther vergleichen, um die ganze Kunst unsres deutschen Dichters zu
fühlen. Hier ist Alles unmittelbar und real empfunden, und wirkt ans den Leser
mit der Kraft einer unabweisbaren Ueberzeugung; in der neuen Heloise dagegen
ist Alles berechnet und ausgeklügelt.

Die Delphine ist ein großer Fortschritt, schon in der Form, obgleich die
Methode, die ganze Geschichte in Briefen darzustellen, fehlerhaft ist, denn es wird
nicht allem die Wahrscheinlichkeit verletzt, weil die handelnden Personen in den
unpassendsten Augenblicken die Feder ergreifen müssen, um angeblich ihren Ver¬
trauten, eigentlich aber den Leser, in Kenntniß von dem Vorgefallenen zu setzen,
sondern es wird auch in der Zeichnung der Charaktere eine unangenehme Absicht
lichkeit hervorgebracht. Ein jeder Charakter setzt sich von vorn herein in Positur,
und sucht Alles, was für sein Verständniß von Bedeutuug sein kann, gleich ans
einmal anzubringen. Abgesehen aber von diesem Fehler, der wenigstens nicht
ganz vermieden ist, haben alle Personen das Interesse der Wahrheit; man sieht,
daß die Dichterin sich ihre Probleme nicht ausgeklügelt, sondern sie ans der An-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/298>, abgerufen am 23.07.2024.