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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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am Boden liegende Judenkinder, welche vergebens die abziehenden Christen an¬
rufen, sie mitzunehmen, sie vor dem sichern Tode zu erretten. Zwar der Knabe
mit dem Oelzweige scheint zu winken, als wolle er in kindlicher Unschuld ihnen
zurufen: Kommt mit nus! Auch einer der Engel wendet liebevoll eine milde
Handbewegung deu bittenden Kindern zu; die andere Hand zeigt aus das aus dem
Kelch emporsteigendeM-euz, als aus das Zeichen der Erlösung. Fern ist aber noch
die Zeit, wo Christ und Jude aus dem Grunde der Menschlichkeit sich als Brüder
erkennen und begrüßen werden. Die christliche Mutter denkt nur der eigene"
Kinder, die sie mit den Armen umschließt, und über dem Singen und Preisen
der Christen verklingt die Bitte der geängstigten Judenkinder, bleibt die christ¬
liche That, die That der Menschenliebe umgethan. Der Künstler, der uns die
ganze Reinheit und anspruchslose Frömmigkeit der ersten und einfachsten christliche"
Gottesverehrung, dicht neben dem entsittlichenden Mammoudicuste, so schö"
empfinden ließ, stellt uns doch zugleich auf einen freien Standpunkt edelster
Humanität, indem er symbolisch die Schranke der Konfession andeutet, dnrch
welche auch dieser beseligende Himmelsglaube sich geschichtlich in einseitiger Rich¬
tung des Gemüthes abschloß.

Ein riesiger Inhalt religionsphilosophischer, weltgeschichtlicher und individueller
Beziehungen vereinigt sich in diesem Bilde, dessen weit umfassende epische Gestalt
in der Hohenpriestergruppe einen dramatischen Mittelpunkt gewinnt. Das erstaunlich
Großartige des Eindrucks liegt in dem rein historischen Theil, der mit seinen han¬
delnden Massen und seiner gewaltig bewegten Gruppirung auch im Raume sich als
Hauptsache, und durch seine selbstständige Bedeutung als das eigentliche Bild
geltend gemacht. Man darf daher die Frage:, wozu die Propheten, wozu du'
Engel und Furien? keineswegs zu den durchaus müßigen werfen. Die Gesanunt-
eompvfition des Gemäldes fällt offenbar in vier Theile ans einander: die Himmels-
gruppc, die Zerstörung von Jerusalem, Ahasver mit den Furien, die Christe"-
famille. Im Thurmbau zu Babel ist der ganze Vorgang unmittelbar eine That Gottes,
und die Handlung bleibt vollständig in den Grenzen der Mythe. Darum ist
auch eine größere Einheit der malerischen Gliederung in dem Bilde. Die strahlen¬
artige Dreifaltigkeit der sich scheidenden Stämme erscheint als directe Folge der
plötzlich einwirkenden göttlichen Macht. Wenn ich dennoch die Zerstörung von
Jerusalem für ein viel bedeutenderes Kunstwerk halte, so liegt dies an dem UM'
stände, daß Kaulbach sich hier als Geschichtsmaler ungleich größer zeigt durch
die meisterhafte Bewältigung und wahrheitvolie Darstellung eines massenhaften
realhistorischeu Stoffs. Andrerseits jedoch deckt sich der Widerspruch zwischen
de,w versinnlichten Idealismus einer metaphysischen und phantastischen Welt mit
der in weltgeschichtlicher Idealität ergriffenen Wirklichkeit auch um so entschiedener
und schroffer auf. In der Gesmumtidee, welche Kaulbach seinem cyklischen Epos
der Weltgeschichte zum Grunde legte, siudet jene Frage allerdings ihre Erledigung,


am Boden liegende Judenkinder, welche vergebens die abziehenden Christen an¬
rufen, sie mitzunehmen, sie vor dem sichern Tode zu erretten. Zwar der Knabe
mit dem Oelzweige scheint zu winken, als wolle er in kindlicher Unschuld ihnen
zurufen: Kommt mit nus! Auch einer der Engel wendet liebevoll eine milde
Handbewegung deu bittenden Kindern zu; die andere Hand zeigt aus das aus dem
Kelch emporsteigendeM-euz, als aus das Zeichen der Erlösung. Fern ist aber noch
die Zeit, wo Christ und Jude aus dem Grunde der Menschlichkeit sich als Brüder
erkennen und begrüßen werden. Die christliche Mutter denkt nur der eigene»
Kinder, die sie mit den Armen umschließt, und über dem Singen und Preisen
der Christen verklingt die Bitte der geängstigten Judenkinder, bleibt die christ¬
liche That, die That der Menschenliebe umgethan. Der Künstler, der uns die
ganze Reinheit und anspruchslose Frömmigkeit der ersten und einfachsten christliche»
Gottesverehrung, dicht neben dem entsittlichenden Mammoudicuste, so schö»
empfinden ließ, stellt uns doch zugleich auf einen freien Standpunkt edelster
Humanität, indem er symbolisch die Schranke der Konfession andeutet, dnrch
welche auch dieser beseligende Himmelsglaube sich geschichtlich in einseitiger Rich¬
tung des Gemüthes abschloß.

Ein riesiger Inhalt religionsphilosophischer, weltgeschichtlicher und individueller
Beziehungen vereinigt sich in diesem Bilde, dessen weit umfassende epische Gestalt
in der Hohenpriestergruppe einen dramatischen Mittelpunkt gewinnt. Das erstaunlich
Großartige des Eindrucks liegt in dem rein historischen Theil, der mit seinen han¬
delnden Massen und seiner gewaltig bewegten Gruppirung auch im Raume sich als
Hauptsache, und durch seine selbstständige Bedeutung als das eigentliche Bild
geltend gemacht. Man darf daher die Frage:, wozu die Propheten, wozu du'
Engel und Furien? keineswegs zu den durchaus müßigen werfen. Die Gesanunt-
eompvfition des Gemäldes fällt offenbar in vier Theile ans einander: die Himmels-
gruppc, die Zerstörung von Jerusalem, Ahasver mit den Furien, die Christe»-
famille. Im Thurmbau zu Babel ist der ganze Vorgang unmittelbar eine That Gottes,
und die Handlung bleibt vollständig in den Grenzen der Mythe. Darum ist
auch eine größere Einheit der malerischen Gliederung in dem Bilde. Die strahlen¬
artige Dreifaltigkeit der sich scheidenden Stämme erscheint als directe Folge der
plötzlich einwirkenden göttlichen Macht. Wenn ich dennoch die Zerstörung von
Jerusalem für ein viel bedeutenderes Kunstwerk halte, so liegt dies an dem UM'
stände, daß Kaulbach sich hier als Geschichtsmaler ungleich größer zeigt durch
die meisterhafte Bewältigung und wahrheitvolie Darstellung eines massenhaften
realhistorischeu Stoffs. Andrerseits jedoch deckt sich der Widerspruch zwischen
de,w versinnlichten Idealismus einer metaphysischen und phantastischen Welt mit
der in weltgeschichtlicher Idealität ergriffenen Wirklichkeit auch um so entschiedener
und schroffer auf. In der Gesmumtidee, welche Kaulbach seinem cyklischen Epos
der Weltgeschichte zum Grunde legte, siudet jene Frage allerdings ihre Erledigung,


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[0190] am Boden liegende Judenkinder, welche vergebens die abziehenden Christen an¬ rufen, sie mitzunehmen, sie vor dem sichern Tode zu erretten. Zwar der Knabe mit dem Oelzweige scheint zu winken, als wolle er in kindlicher Unschuld ihnen zurufen: Kommt mit nus! Auch einer der Engel wendet liebevoll eine milde Handbewegung deu bittenden Kindern zu; die andere Hand zeigt aus das aus dem Kelch emporsteigendeM-euz, als aus das Zeichen der Erlösung. Fern ist aber noch die Zeit, wo Christ und Jude aus dem Grunde der Menschlichkeit sich als Brüder erkennen und begrüßen werden. Die christliche Mutter denkt nur der eigene» Kinder, die sie mit den Armen umschließt, und über dem Singen und Preisen der Christen verklingt die Bitte der geängstigten Judenkinder, bleibt die christ¬ liche That, die That der Menschenliebe umgethan. Der Künstler, der uns die ganze Reinheit und anspruchslose Frömmigkeit der ersten und einfachsten christliche» Gottesverehrung, dicht neben dem entsittlichenden Mammoudicuste, so schö» empfinden ließ, stellt uns doch zugleich auf einen freien Standpunkt edelster Humanität, indem er symbolisch die Schranke der Konfession andeutet, dnrch welche auch dieser beseligende Himmelsglaube sich geschichtlich in einseitiger Rich¬ tung des Gemüthes abschloß. Ein riesiger Inhalt religionsphilosophischer, weltgeschichtlicher und individueller Beziehungen vereinigt sich in diesem Bilde, dessen weit umfassende epische Gestalt in der Hohenpriestergruppe einen dramatischen Mittelpunkt gewinnt. Das erstaunlich Großartige des Eindrucks liegt in dem rein historischen Theil, der mit seinen han¬ delnden Massen und seiner gewaltig bewegten Gruppirung auch im Raume sich als Hauptsache, und durch seine selbstständige Bedeutung als das eigentliche Bild geltend gemacht. Man darf daher die Frage:, wozu die Propheten, wozu du' Engel und Furien? keineswegs zu den durchaus müßigen werfen. Die Gesanunt- eompvfition des Gemäldes fällt offenbar in vier Theile ans einander: die Himmels- gruppc, die Zerstörung von Jerusalem, Ahasver mit den Furien, die Christe»- famille. Im Thurmbau zu Babel ist der ganze Vorgang unmittelbar eine That Gottes, und die Handlung bleibt vollständig in den Grenzen der Mythe. Darum ist auch eine größere Einheit der malerischen Gliederung in dem Bilde. Die strahlen¬ artige Dreifaltigkeit der sich scheidenden Stämme erscheint als directe Folge der plötzlich einwirkenden göttlichen Macht. Wenn ich dennoch die Zerstörung von Jerusalem für ein viel bedeutenderes Kunstwerk halte, so liegt dies an dem UM' stände, daß Kaulbach sich hier als Geschichtsmaler ungleich größer zeigt durch die meisterhafte Bewältigung und wahrheitvolie Darstellung eines massenhaften realhistorischeu Stoffs. Andrerseits jedoch deckt sich der Widerspruch zwischen de,w versinnlichten Idealismus einer metaphysischen und phantastischen Welt mit der in weltgeschichtlicher Idealität ergriffenen Wirklichkeit auch um so entschiedener und schroffer auf. In der Gesmumtidee, welche Kaulbach seinem cyklischen Epos der Weltgeschichte zum Grunde legte, siudet jene Frage allerdings ihre Erledigung,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/190>, abgerufen am 23.07.2024.