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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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daß mehrere wesentliche Momente dieses wüsten Stücks der Erzählung von Balzac:
"das Elixir des langen Lebens", entnommen sind.

Von tragischen Stücken bleiben nur noch übrig: Der Alchimist (um 1839)
und Lorenzino (1842). Das erste, in Versen geschrieben, behandelt in einer
Reihe abenteuerlicher Intriguen die schrecklichen Verirrungen des Durstes nach
Gold; das zweite, in Prosa, begiebt sich wieder-ans das historische Feld. Es
spielt in den Zeiten der Medici, und behandelt einen Menschen, der alle seine
Gedanken und Empfindungen ans einen Zweck concentrit hat, und diesem Zweck,
nach der Convenienz des Theatermaschinisten, alle Rücksichten opfert, Her aber
unter der Maske der kältesten Berechnung die glühendsten Leidenschaften verbirgt.
Daß er seinen Zweck erreicht und doch unglücklich wird, weil Alles, was er liebte,
darüber mit zu Grnnde geht, ist die Moral dieser ganz unwahren und abstracten
Person. Die Nebenfiguren des Stücks sind übrigens nicht schlecht gezeichnet, und
Effecten fehlt es auch nicht.

Die Herrschaft der Romantiker auf dem Theater wurde erschüttert durch
das Austreten der Rachel (-1838). Corneille und Racine traten wieder in ihre
Rechte ein, wenn anch in einer Weise dargestellt, die in mancher Beziehung
"och romantischer war, als die Poesie der eigentlichen Romantiker. Jüngere
Dichter, namentlich Ponsard, wandten sich den alten Stoffen und den aristo¬
telischen Formen wieder zu, und die Hauptdichter der jungen Schule verstummten.
Was noch in ihrer Richtung geleistet wurde, gerieth so ins Ungeheuerliche und
Formlose, daß man kaum uoch von dramatischer Kunst sprechen konnte. Dumas über¬
nahm das sogenannte historische Theater, aus welchem die Haupt- und Staatsactionen,
die er früher in seinen Romanen bearbeitet, dialvgisirt wurden, wo ganze Reiter¬
schwadronen über die Bühne zogen, und wo mau sich über der Menge der Figuren
"ud Begebenheiten, die häufig eine Dauer vou sechs bis sieben Stunden umfaßten,
^Um noch zu orientiren im Stande war. Die Romantik verlor sich, wie man
>hr es hätte voraussagen können, ganz und gar in's Aeußerliche und Materielle.
Das psychologische Raffinement wurde durch die Massenhaftigkeit der Thatsachen
^'drückt. Sie ist aber dadurch noch nicht widerlegt, und man wird nicht läugnen
^unen, daß sie eben so wie die gleichzeitigen Neuerungen in der plastischen Kunst
"ud in der Musik, eine Bewegung, eine Mannichfaltigkeit der Farben, eine Frische
Und Freiheit des Tons auf das Theater geführt hat, die in den ewigen Wieder¬
holungen der classischen Probleme nicht zu finden war, und die sich selbst in jenen
formlosen, ungeheuerlichen historischen Stücken unsres Dichters nicht ganz ver-
^Ugnet. Was der moderne Klassicismus bis jetzt geleistet hat, ist sehr unbedeutend,
>venu wir auch sein Streben, die Handlung zu concentriren und die Charaktere
ZU vereinfachen, vollkommen billigen müssen. Ueberhaupt scheint in der Tragödie
wieder eine Periode der Unfruchtbarkeit eingetreten zu sein, denn die neueren so¬
genannten Volksdramen gehören gar nicht mehr in den Bereich der Kunst. Das


daß mehrere wesentliche Momente dieses wüsten Stücks der Erzählung von Balzac:
„das Elixir des langen Lebens", entnommen sind.

Von tragischen Stücken bleiben nur noch übrig: Der Alchimist (um 1839)
und Lorenzino (1842). Das erste, in Versen geschrieben, behandelt in einer
Reihe abenteuerlicher Intriguen die schrecklichen Verirrungen des Durstes nach
Gold; das zweite, in Prosa, begiebt sich wieder-ans das historische Feld. Es
spielt in den Zeiten der Medici, und behandelt einen Menschen, der alle seine
Gedanken und Empfindungen ans einen Zweck concentrit hat, und diesem Zweck,
nach der Convenienz des Theatermaschinisten, alle Rücksichten opfert, Her aber
unter der Maske der kältesten Berechnung die glühendsten Leidenschaften verbirgt.
Daß er seinen Zweck erreicht und doch unglücklich wird, weil Alles, was er liebte,
darüber mit zu Grnnde geht, ist die Moral dieser ganz unwahren und abstracten
Person. Die Nebenfiguren des Stücks sind übrigens nicht schlecht gezeichnet, und
Effecten fehlt es auch nicht.

Die Herrschaft der Romantiker auf dem Theater wurde erschüttert durch
das Austreten der Rachel (-1838). Corneille und Racine traten wieder in ihre
Rechte ein, wenn anch in einer Weise dargestellt, die in mancher Beziehung
»och romantischer war, als die Poesie der eigentlichen Romantiker. Jüngere
Dichter, namentlich Ponsard, wandten sich den alten Stoffen und den aristo¬
telischen Formen wieder zu, und die Hauptdichter der jungen Schule verstummten.
Was noch in ihrer Richtung geleistet wurde, gerieth so ins Ungeheuerliche und
Formlose, daß man kaum uoch von dramatischer Kunst sprechen konnte. Dumas über¬
nahm das sogenannte historische Theater, aus welchem die Haupt- und Staatsactionen,
die er früher in seinen Romanen bearbeitet, dialvgisirt wurden, wo ganze Reiter¬
schwadronen über die Bühne zogen, und wo mau sich über der Menge der Figuren
"ud Begebenheiten, die häufig eine Dauer vou sechs bis sieben Stunden umfaßten,
^Um noch zu orientiren im Stande war. Die Romantik verlor sich, wie man
>hr es hätte voraussagen können, ganz und gar in's Aeußerliche und Materielle.
Das psychologische Raffinement wurde durch die Massenhaftigkeit der Thatsachen
^'drückt. Sie ist aber dadurch noch nicht widerlegt, und man wird nicht läugnen
^unen, daß sie eben so wie die gleichzeitigen Neuerungen in der plastischen Kunst
"ud in der Musik, eine Bewegung, eine Mannichfaltigkeit der Farben, eine Frische
Und Freiheit des Tons auf das Theater geführt hat, die in den ewigen Wieder¬
holungen der classischen Probleme nicht zu finden war, und die sich selbst in jenen
formlosen, ungeheuerlichen historischen Stücken unsres Dichters nicht ganz ver-
^Ugnet. Was der moderne Klassicismus bis jetzt geleistet hat, ist sehr unbedeutend,
>venu wir auch sein Streben, die Handlung zu concentriren und die Charaktere
ZU vereinfachen, vollkommen billigen müssen. Ueberhaupt scheint in der Tragödie
wieder eine Periode der Unfruchtbarkeit eingetreten zu sein, denn die neueren so¬
genannten Volksdramen gehören gar nicht mehr in den Bereich der Kunst. Das


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[0177] daß mehrere wesentliche Momente dieses wüsten Stücks der Erzählung von Balzac: „das Elixir des langen Lebens", entnommen sind. Von tragischen Stücken bleiben nur noch übrig: Der Alchimist (um 1839) und Lorenzino (1842). Das erste, in Versen geschrieben, behandelt in einer Reihe abenteuerlicher Intriguen die schrecklichen Verirrungen des Durstes nach Gold; das zweite, in Prosa, begiebt sich wieder-ans das historische Feld. Es spielt in den Zeiten der Medici, und behandelt einen Menschen, der alle seine Gedanken und Empfindungen ans einen Zweck concentrit hat, und diesem Zweck, nach der Convenienz des Theatermaschinisten, alle Rücksichten opfert, Her aber unter der Maske der kältesten Berechnung die glühendsten Leidenschaften verbirgt. Daß er seinen Zweck erreicht und doch unglücklich wird, weil Alles, was er liebte, darüber mit zu Grnnde geht, ist die Moral dieser ganz unwahren und abstracten Person. Die Nebenfiguren des Stücks sind übrigens nicht schlecht gezeichnet, und Effecten fehlt es auch nicht. Die Herrschaft der Romantiker auf dem Theater wurde erschüttert durch das Austreten der Rachel (-1838). Corneille und Racine traten wieder in ihre Rechte ein, wenn anch in einer Weise dargestellt, die in mancher Beziehung »och romantischer war, als die Poesie der eigentlichen Romantiker. Jüngere Dichter, namentlich Ponsard, wandten sich den alten Stoffen und den aristo¬ telischen Formen wieder zu, und die Hauptdichter der jungen Schule verstummten. Was noch in ihrer Richtung geleistet wurde, gerieth so ins Ungeheuerliche und Formlose, daß man kaum uoch von dramatischer Kunst sprechen konnte. Dumas über¬ nahm das sogenannte historische Theater, aus welchem die Haupt- und Staatsactionen, die er früher in seinen Romanen bearbeitet, dialvgisirt wurden, wo ganze Reiter¬ schwadronen über die Bühne zogen, und wo mau sich über der Menge der Figuren "ud Begebenheiten, die häufig eine Dauer vou sechs bis sieben Stunden umfaßten, ^Um noch zu orientiren im Stande war. Die Romantik verlor sich, wie man >hr es hätte voraussagen können, ganz und gar in's Aeußerliche und Materielle. Das psychologische Raffinement wurde durch die Massenhaftigkeit der Thatsachen ^'drückt. Sie ist aber dadurch noch nicht widerlegt, und man wird nicht läugnen ^unen, daß sie eben so wie die gleichzeitigen Neuerungen in der plastischen Kunst "ud in der Musik, eine Bewegung, eine Mannichfaltigkeit der Farben, eine Frische Und Freiheit des Tons auf das Theater geführt hat, die in den ewigen Wieder¬ holungen der classischen Probleme nicht zu finden war, und die sich selbst in jenen formlosen, ungeheuerlichen historischen Stücken unsres Dichters nicht ganz ver- ^Ugnet. Was der moderne Klassicismus bis jetzt geleistet hat, ist sehr unbedeutend, >venu wir auch sein Streben, die Handlung zu concentriren und die Charaktere ZU vereinfachen, vollkommen billigen müssen. Ueberhaupt scheint in der Tragödie wieder eine Periode der Unfruchtbarkeit eingetreten zu sein, denn die neueren so¬ genannten Volksdramen gehören gar nicht mehr in den Bereich der Kunst. Das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/177>, abgerufen am 15.01.2025.