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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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das die Poesie in dieser Beziehung erreicht hatte, waren die Stücke von Beau¬
marchais, und diese sind doch nichts gegen Antony und Angele. -- Der Held
des letztern, Alfred, ist nicht ein leidenschaftlicher Schwärmer wie Antony, der zu
seinem Atheismus nnr dnrch Schmerzen gekommen ist, sondern ein völlig herz¬
loser, kalt berechnender, frivoler Abenteurer, der die Sitte als ein Gewebe von
Lüge und Heuchelei durchschaut zu haben glaubt, und seine Herzensangelegenheiten
Mir M Werkzeuge zu seinem Fortkommen betrachtet. Nachdem er sich unter der
Restauration durch weibliche Verbindungen Rang, Titel und Reichthum erworben
hat, sieht er sich dnrch die Julirevolution, die ihm alles dieses raubt, genöthigt, den
Ban seines Glückes von neuem anzufangen. Er läßt eine alte Geliebte, die, um
'hin zu folgen, ihrem Mann entflohen ist, im Stich, und bewirbt sich um die
Hand eines jungen Mädchens, das ihm durch seiue Familieuverbinduugen nützen
k"'M. Da er nicbt hoffen darf, ihre Mutter zur Einwilligung zu bestimmen, so
beschließt er, Angele vorher in eine Lage zu versetzen, die eine Heirath unvermeid¬
lich macht. Die Vorbereitungen dazu, bis genan zum kritischen Augenblick, gehe" auf
der Bühne vor. Daraus erscheint die Mutter, eine noch junge Wittwe, die gern
wieder heirathen möchte; sie nimmt den jungen Mann, der ihr gefällt, nach Paris
"Ne, und dort sind sie eben im Begriff, ihre Verlobung bekannt zu machen, als
Angele ankommt. In einem Nebenzimmer erfolgt die Niederkunft der letztern.
Die Verwickelung wird noch dadurch gesteigert, daß auch jene alte Geliebte sich
"ueber meldet, die mittlerweile die Maitresse eines allmächtigen Ministers geworden
Der.Knoten kann endlich uur dadurch gelöst werde", daß ein junger Mann,
^ Angele liebt und die Schwindsucht hat, den dreifach treulosen Alfred im Duell
M)ießt, und die Ehre der Gefallenen dnrch eine Heirath, die bei seinem Körper-
Wand nicht lauge dauern wird, wiederherstellt. -- Das Stück ist so frech, un-
^euch "ut düster als möglich, aber es ist sehr geschickt gemacht, und es ist Natur
"ut Art wilder Poesie darin.

Im Charles VI I hat sich Dumas wieder den Alexandrinern und
Historie zugewendet, ja er glaubte im Sinne der classischen Schule zu schrei¬
en, indem er die Einheit des Orts und der Zeit beobachtet, und indem er den
^usgang aus Racine'ö Andromache entlehnt. Eigentlich ist es aber nicht
der Einfluß der Klassiker, der die Form dieses Stücks bestimmt hat, sondern
der Einfluß Victor Hugo'S. In keinem seiner Dramen zeigt Dumas in der Con¬
ception der Charaktere, in dem Mechanismus der Scenen und selbst in der Sprache
s" viel Verwandtschaft mit diesem König der Romantiker. -- Karl VII. ist das
^"gste seiner Stücke. Man kann es mit einem Schiller'schen vergleichen. Auch
h'er ist wieder die Jneinauderbildnng deö Historischen und des Novellistischen
sehr locker. Karl VII., der mit seiner Geliebten, Agnes Sorel, vor den Engländern
^ehe, bei einem seiner großen Vasallen, Charles de Savoist), einkehrt, und im
A"fang den frivolsten Beschäftigungen nachgeht, bis er sich endlich, durch Agnes


das die Poesie in dieser Beziehung erreicht hatte, waren die Stücke von Beau¬
marchais, und diese sind doch nichts gegen Antony und Angele. — Der Held
des letztern, Alfred, ist nicht ein leidenschaftlicher Schwärmer wie Antony, der zu
seinem Atheismus nnr dnrch Schmerzen gekommen ist, sondern ein völlig herz¬
loser, kalt berechnender, frivoler Abenteurer, der die Sitte als ein Gewebe von
Lüge und Heuchelei durchschaut zu haben glaubt, und seine Herzensangelegenheiten
Mir M Werkzeuge zu seinem Fortkommen betrachtet. Nachdem er sich unter der
Restauration durch weibliche Verbindungen Rang, Titel und Reichthum erworben
hat, sieht er sich dnrch die Julirevolution, die ihm alles dieses raubt, genöthigt, den
Ban seines Glückes von neuem anzufangen. Er läßt eine alte Geliebte, die, um
'hin zu folgen, ihrem Mann entflohen ist, im Stich, und bewirbt sich um die
Hand eines jungen Mädchens, das ihm durch seiue Familieuverbinduugen nützen
k"'M. Da er nicbt hoffen darf, ihre Mutter zur Einwilligung zu bestimmen, so
beschließt er, Angele vorher in eine Lage zu versetzen, die eine Heirath unvermeid¬
lich macht. Die Vorbereitungen dazu, bis genan zum kritischen Augenblick, gehe» auf
der Bühne vor. Daraus erscheint die Mutter, eine noch junge Wittwe, die gern
wieder heirathen möchte; sie nimmt den jungen Mann, der ihr gefällt, nach Paris
«Ne, und dort sind sie eben im Begriff, ihre Verlobung bekannt zu machen, als
Angele ankommt. In einem Nebenzimmer erfolgt die Niederkunft der letztern.
Die Verwickelung wird noch dadurch gesteigert, daß auch jene alte Geliebte sich
"ueber meldet, die mittlerweile die Maitresse eines allmächtigen Ministers geworden
Der.Knoten kann endlich uur dadurch gelöst werde», daß ein junger Mann,
^ Angele liebt und die Schwindsucht hat, den dreifach treulosen Alfred im Duell
M)ießt, und die Ehre der Gefallenen dnrch eine Heirath, die bei seinem Körper-
Wand nicht lauge dauern wird, wiederherstellt. — Das Stück ist so frech, un-
^euch „ut düster als möglich, aber es ist sehr geschickt gemacht, und es ist Natur
»ut Art wilder Poesie darin.

Im Charles VI I hat sich Dumas wieder den Alexandrinern und
Historie zugewendet, ja er glaubte im Sinne der classischen Schule zu schrei¬
en, indem er die Einheit des Orts und der Zeit beobachtet, und indem er den
^usgang aus Racine'ö Andromache entlehnt. Eigentlich ist es aber nicht
der Einfluß der Klassiker, der die Form dieses Stücks bestimmt hat, sondern
der Einfluß Victor Hugo'S. In keinem seiner Dramen zeigt Dumas in der Con¬
ception der Charaktere, in dem Mechanismus der Scenen und selbst in der Sprache
s» viel Verwandtschaft mit diesem König der Romantiker. — Karl VII. ist das
^"gste seiner Stücke. Man kann es mit einem Schiller'schen vergleichen. Auch
h'er ist wieder die Jneinauderbildnng deö Historischen und des Novellistischen
sehr locker. Karl VII., der mit seiner Geliebten, Agnes Sorel, vor den Engländern
^ehe, bei einem seiner großen Vasallen, Charles de Savoist), einkehrt, und im
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/171>, abgerufen am 23.07.2024.