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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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Wie glücklich mußte ich mich schätze", wenn ich, auch ein Verbannter, meine
Lage mit derjenigen der Armen verglich, an welchen ich vorbeifuhr. Legen sich
die gemeinschaftlich an eine Stange geschmiedeten Unglücklichen zur Ruhe, so
reicht die geringste Bewegung eines Einzigen hin, Alle ans dem Schlafe auf¬
zuscheuchen; einer stärkeren, plötzlichen folgt gewöhnlich ein Schmerzensschrei. Bei
großer Hitze wird irgendwo im Felde bei einer Pfütze Halt gemacht; die Ge¬
fangenen legen sich hin, und die Soldaten umgeben sie in einem dichten Kreise.
Drei Tage wird marschirt, den vierten dagegen geruht, und zwar, von Nischnei
Nowgorod angefangen, in großen, hölzernen, ziemlich gut gebauten, einstöckigen
Häusern, welche die Negierung, der weit aus einander liegenden Dörfer wegen,
'n der Richtung von Kiew und Siüolensk bis nach Nertschinsk aufgestellt hat.
Gewöhnlich befinden sie sich, mitten im Felde oder der Steppe unweit eines Sees
"der fließenden Wassers; fehlt dies, so ist für einen Brunnen Sorge getragen,
^ete dieser sogenannten Stationen hat einen Officier und die hinreichende An¬
zahl Soldaten zur Besatzung, welchen etappenweise die Beförderung der Ver¬
bannten obliegt. Der Officier ist für die seiner Leitung Anvertrauten aufs strengste
verantwortlich und hat besonders darüber zu wachen, daß keiner derselben ent-
weiche; seine Macht ist daher anch eine unbeschränkte, und er kann nach Gefallen
Knute oder Peitsche zuerkennen, ohne daß der Verurtheilte es wagen dürste, sich
irgendwo zu beklagen. Es läßt sich denken, daß auf solche Art mancher Ueber-
^'isf, manche unwürdige Handlung vorkommen muß ; allein zur Ehre der Mensch¬
heit darf man bekennen, daß die Officiere, denen die traurige Pflicht obliegt,
Zug zu geleiten, und die theils Russen, theils Polen siud, das Mögliche
thun, deu Unglücklichen ihren sauern Gaug nicht noch mehr zu erschweren. Mit
^)t christlichem Herzen nehmen sie meist alle Rücksichten, die dem Dienste nicht
widerstreben, sind theilnehmend im Umgang, und sorgen, so viel sie vermögen, so-
'""l für hinreichende, gesunde Kost, als auch für die nöthige Kleidung.

Die Abtheilungen bewegen sich so vorwärts, daß jede Woche eine in To-'
'"ist eintrifft. Hier sitzt die Haupt-Commission, die es übernimmt, die Gcfange-
M "sortiren" und weiter zu befördern. Tobolsk ist der einzige Ort, wo
"uger H^t gemacht wird, sonst nirgends. Sind die Fröste sehr groß, oder die
U"sser ausgetreten, was gewöhnlich von Ende Mai bis Mitte Juni der Fall ist,
"um rasten die Abtheilungen nothgedrungen in den Stationen.

^>etzt zur speciellen Geschichte einiger Verbannten.

Peter Wysvcki, vor dem Aufstande des Jahres 1830 Unterlieutnant und
>)rer der Fähurichsschule, einer der Häupter der polnischen Revolution und
Oberst des 9. oder -10. Infanterie-Regiments, wurde bei Vertheidigung der
^ vlsker Redoute, zur Zeit des Sturmes anf Warschau (0-10. September -183-1).
erwundet, von den Russen gefangen, und nach Petersburg abgeführt. Das
r heil des Kriegsgerichts, welches auf Tod lautete, wurde von dem Czaren
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Wie glücklich mußte ich mich schätze», wenn ich, auch ein Verbannter, meine
Lage mit derjenigen der Armen verglich, an welchen ich vorbeifuhr. Legen sich
die gemeinschaftlich an eine Stange geschmiedeten Unglücklichen zur Ruhe, so
reicht die geringste Bewegung eines Einzigen hin, Alle ans dem Schlafe auf¬
zuscheuchen; einer stärkeren, plötzlichen folgt gewöhnlich ein Schmerzensschrei. Bei
großer Hitze wird irgendwo im Felde bei einer Pfütze Halt gemacht; die Ge¬
fangenen legen sich hin, und die Soldaten umgeben sie in einem dichten Kreise.
Drei Tage wird marschirt, den vierten dagegen geruht, und zwar, von Nischnei
Nowgorod angefangen, in großen, hölzernen, ziemlich gut gebauten, einstöckigen
Häusern, welche die Negierung, der weit aus einander liegenden Dörfer wegen,
'n der Richtung von Kiew und Siüolensk bis nach Nertschinsk aufgestellt hat.
Gewöhnlich befinden sie sich, mitten im Felde oder der Steppe unweit eines Sees
"der fließenden Wassers; fehlt dies, so ist für einen Brunnen Sorge getragen,
^ete dieser sogenannten Stationen hat einen Officier und die hinreichende An¬
zahl Soldaten zur Besatzung, welchen etappenweise die Beförderung der Ver¬
bannten obliegt. Der Officier ist für die seiner Leitung Anvertrauten aufs strengste
verantwortlich und hat besonders darüber zu wachen, daß keiner derselben ent-
weiche; seine Macht ist daher anch eine unbeschränkte, und er kann nach Gefallen
Knute oder Peitsche zuerkennen, ohne daß der Verurtheilte es wagen dürste, sich
irgendwo zu beklagen. Es läßt sich denken, daß auf solche Art mancher Ueber-
^'isf, manche unwürdige Handlung vorkommen muß ; allein zur Ehre der Mensch¬
heit darf man bekennen, daß die Officiere, denen die traurige Pflicht obliegt,
Zug zu geleiten, und die theils Russen, theils Polen siud, das Mögliche
thun, deu Unglücklichen ihren sauern Gaug nicht noch mehr zu erschweren. Mit
^)t christlichem Herzen nehmen sie meist alle Rücksichten, die dem Dienste nicht
widerstreben, sind theilnehmend im Umgang, und sorgen, so viel sie vermögen, so-
'""l für hinreichende, gesunde Kost, als auch für die nöthige Kleidung.

Die Abtheilungen bewegen sich so vorwärts, daß jede Woche eine in To-'
'"ist eintrifft. Hier sitzt die Haupt-Commission, die es übernimmt, die Gcfange-
M „sortiren" und weiter zu befördern. Tobolsk ist der einzige Ort, wo
"uger H^t gemacht wird, sonst nirgends. Sind die Fröste sehr groß, oder die
U"sser ausgetreten, was gewöhnlich von Ende Mai bis Mitte Juni der Fall ist,
"um rasten die Abtheilungen nothgedrungen in den Stationen.

^>etzt zur speciellen Geschichte einiger Verbannten.

Peter Wysvcki, vor dem Aufstande des Jahres 1830 Unterlieutnant und
>)rer der Fähurichsschule, einer der Häupter der polnischen Revolution und
Oberst des 9. oder -10. Infanterie-Regiments, wurde bei Vertheidigung der
^ vlsker Redoute, zur Zeit des Sturmes anf Warschau (0-10. September -183-1).
erwundet, von den Russen gefangen, und nach Petersburg abgeführt. Das
r heil des Kriegsgerichts, welches auf Tod lautete, wurde von dem Czaren
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/127>, abgerufen am 23.07.2024.