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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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schlimmer ist es mit dem Inhalt. Ich will hier nicht von den neuen Variationen
auf das alte Thema der Marseillaise reden, die doch immer nur ans ein ausge¬
führtes Hurrah! schlagt todt! herauskommen. Daß man in der Hitze seinen
Gegner verwünscht und ihm mit allem möglichen Unheil droht, liegt in der Natur
der Sache, und da unsre realistischen Dichter sich im Schimpfen gegen die Demo¬
kraten einander überbieten, so können sie es den demokratischen Dichtern nicht ver¬
argen, wenn Diese ihrerseits über das Maß hinausgehen. Aber wenn man die
übertriebene Wildheit in Schlacht- und Trinkliedern verzeiht, deren bacchantischer
Charakter Vieles entschuldigt, so ist das nicht der Fall bei solchen Gedichten, die
sich auf einen bestimmten historischen Gegenstand beziehen. Hier werden wir von
dem Dichter verlangen, daß die Empfindung, die er seinen Helden leiht, oder
welche diese Helden in ihm erwecken, wenigstens in einigem Verhältniß zur Wirk¬
lichkeit stehen; wenn aber Freiligrath in einem seiner Gedichte einen edlen, tugend¬
haften Menschen aus der Grenzscheide von England und Frankreich, trotz der
Gefahren, die ihn umdrohen, aus aufopfernder, hingebender Liebe für s Vaterland
die Flucht nach der Fremde aufgeben und den sichern Tod für sein Volk vorziehen
läßt, und wenn wir dann erfahren, daß dieser Held kein Andrer ist, als Marat,
so können wir das nicht mehr hingehen lassen. Abgesehen von der Rohheit der
Gesinnung, die darin liegt, sich überhaupt für ein Ungeheuer zu begeistern, kann
man sich doch wenigstens eine Stimmung vorstellen, in der man, wie Nero,
der Menschheit einen einzigen Hals wünscht, um ihn umdrehen zu können, und
in einer Art von geistiger Trunkenheit den Neronen der Vergangenheit oder Lu¬
cifer, ihrem Obersten, ein Vivat bringt: aber ans dieser Stimmung Herausgehen
und mit anscheinender Ruhe und Gelassenheit den scheußlichsten Bluthund, den
die Erde gesehen hat, wie einen frommen, sanften, verklärten Märtyrer feiern,
das ist eine Sünde gegen den heiligen Geist der Geschichte, die nicht vergeben
werden kann.

Und doch klingt hinter allen diesen Rcnommistereien ein Etwas durch, was
den Argwohn aufkommen läßt, das Alles sei nicht wirkliche Leidenschaft, sondern
erkünsteltes, gemachtes Wesen. Der Umschwung, den Freiligrath in seinen poli¬
tischen Ueberzeugungen erfahren, war zu gewaltsam, zu wenig vorbereitet, als daß
wir recht daran glauben könnten. Es sieht fast so aus, als ob dieser Jakobi¬
nismus nur der übrigens gleichgiltige Stoff wäre, an dem er sein formelles in¬
haltloses Talent eben so ausübt, wie früher an den Wüsteugeschichtcn, die er auch
nicht aus unmittelbarer Anschauung und Empfindung, sondern nach dem Medium
von Reisebeschreibungen darstellte.

Freiligrath's Talent ist wenigstens nach einer Seite hin überschätzt worden,
wie es fast bei jedem Dichter der letzten Jahrzehende der Fall gewesen ist.



") Freiligrath ist 1810 in Detmold geboren; seine ersten Gedichte erschienen im Musenal¬
manach von Schwab i8As, die erste Sammlung derselben -1838,

schlimmer ist es mit dem Inhalt. Ich will hier nicht von den neuen Variationen
auf das alte Thema der Marseillaise reden, die doch immer nur ans ein ausge¬
führtes Hurrah! schlagt todt! herauskommen. Daß man in der Hitze seinen
Gegner verwünscht und ihm mit allem möglichen Unheil droht, liegt in der Natur
der Sache, und da unsre realistischen Dichter sich im Schimpfen gegen die Demo¬
kraten einander überbieten, so können sie es den demokratischen Dichtern nicht ver¬
argen, wenn Diese ihrerseits über das Maß hinausgehen. Aber wenn man die
übertriebene Wildheit in Schlacht- und Trinkliedern verzeiht, deren bacchantischer
Charakter Vieles entschuldigt, so ist das nicht der Fall bei solchen Gedichten, die
sich auf einen bestimmten historischen Gegenstand beziehen. Hier werden wir von
dem Dichter verlangen, daß die Empfindung, die er seinen Helden leiht, oder
welche diese Helden in ihm erwecken, wenigstens in einigem Verhältniß zur Wirk¬
lichkeit stehen; wenn aber Freiligrath in einem seiner Gedichte einen edlen, tugend¬
haften Menschen aus der Grenzscheide von England und Frankreich, trotz der
Gefahren, die ihn umdrohen, aus aufopfernder, hingebender Liebe für s Vaterland
die Flucht nach der Fremde aufgeben und den sichern Tod für sein Volk vorziehen
läßt, und wenn wir dann erfahren, daß dieser Held kein Andrer ist, als Marat,
so können wir das nicht mehr hingehen lassen. Abgesehen von der Rohheit der
Gesinnung, die darin liegt, sich überhaupt für ein Ungeheuer zu begeistern, kann
man sich doch wenigstens eine Stimmung vorstellen, in der man, wie Nero,
der Menschheit einen einzigen Hals wünscht, um ihn umdrehen zu können, und
in einer Art von geistiger Trunkenheit den Neronen der Vergangenheit oder Lu¬
cifer, ihrem Obersten, ein Vivat bringt: aber ans dieser Stimmung Herausgehen
und mit anscheinender Ruhe und Gelassenheit den scheußlichsten Bluthund, den
die Erde gesehen hat, wie einen frommen, sanften, verklärten Märtyrer feiern,
das ist eine Sünde gegen den heiligen Geist der Geschichte, die nicht vergeben
werden kann.

Und doch klingt hinter allen diesen Rcnommistereien ein Etwas durch, was
den Argwohn aufkommen läßt, das Alles sei nicht wirkliche Leidenschaft, sondern
erkünsteltes, gemachtes Wesen. Der Umschwung, den Freiligrath in seinen poli¬
tischen Ueberzeugungen erfahren, war zu gewaltsam, zu wenig vorbereitet, als daß
wir recht daran glauben könnten. Es sieht fast so aus, als ob dieser Jakobi¬
nismus nur der übrigens gleichgiltige Stoff wäre, an dem er sein formelles in¬
haltloses Talent eben so ausübt, wie früher an den Wüsteugeschichtcn, die er auch
nicht aus unmittelbarer Anschauung und Empfindung, sondern nach dem Medium
von Reisebeschreibungen darstellte.

Freiligrath's Talent ist wenigstens nach einer Seite hin überschätzt worden,
wie es fast bei jedem Dichter der letzten Jahrzehende der Fall gewesen ist.



") Freiligrath ist 1810 in Detmold geboren; seine ersten Gedichte erschienen im Musenal¬
manach von Schwab i8As, die erste Sammlung derselben -1838,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/63>, abgerufen am 30.06.2024.