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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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deren Lecture er sich theoretisch zu bilden suchte. Auf diese Weise hatte er sich
als wilder Schößling selbstständig auf einen ihm bis dahin gänzlich unbekannten
Boden versetzt, in dem er vielleicht festere Wurzel geschlagen haben würde, hätte
nicht ein unerwarteter Schlag seine Chirurgen-Carriere beendigt. Er machte
nämlich -- wie es bei seinem medicinischen Halbwissen nicht überraschen konnte --
bei einer der Handleistungen, zu denen er zugelassen wurde, einmal ein so arges
Versehen, daß der Arzt der Anstalt sich in heftigem Zorne zu ihm umwandte,
und mit einer Ohrfeige seine blutige Hand ans des Knaben Wange zeichnete.
Weiß verlor sein imvrovisirtes Amt, und mußte als geheilt das Krankenhaus
verlassen.

Zum Handwerk zurückzukehren lag weder in seinem Sinne, noch hätte der
schiefgeheilte Finger dies gestattet. Er beschloß daher, in die Schule zurückzu¬
kehren, und, trotz seiner funfzehn oder sechzehn Jahre, dieselbe jetzt noch durch¬
zumachen. Zum Freibesnch am Dvmgymnastum angenommen, durch einige Frei¬
tische und wenige Geldgeschenke unterstützt, führte er seinen Entschloß anch wirk¬
lich aus. Die alten Sprachen zwar ließ er, da es nach den Schulregcln erlaubt
war, bei Seite liegeu, dann aber durchlief er binnen wenigen Jahren, mit eiser¬
nem Fleiße das Ziel im Ange behaltend, die ganze Schule. In den Freistunden,
welche ihm neben der Arbeit blieben, entwickelte sich hier zuerst seine Neigung
für deu später vou ihm ergriffenen Lebensberuf. Eine Anzahl Domschüler
hatte ans dem Boden eines Privathanses ein Liebhabertheater errichtet, auf dem
sie die Werke der damals beliebtesten Bühneuschriftstcller, namenllÄ August
Kotzebue's, zur Ausführung brachten. Weiß wurde einer der eifrigsten und belieb¬
testen Darsteller. Als einer der vorgesetzten Lehrer von dem Theater-Unterneh¬
men der jungen Leute Kunde erhielt und nachforschte, was man denn eigentlich
spiele, erwiderte mau ihm, es seien Engels Schauspiele. Um die Wahrheit
dieser Aussage zu bestätigen und die Existenz des Licbhaberlhcaters zu retten,
wurde daun anch wirklich Engel's dankbarer Sohn eingeübt, und vor jenem Lehrer
zu dessen großer Befriedigung aufgeführt.

Die Ferienzeit besonders war es, welche diese Darstellungen begünstigte, und
als eine solche Zeit wieder einmal vorübergestrichen war, befand sich Weiß, mit seinen
fertigen Ferienarbeiten in der Mappe, auf dem Wege zur Schule. Er war
indessen achtzehn Jahre alt geworden. Ans der Elbbrücke angekommen, fällt ihm
die Erinnerung an die düstern Klassenzimmer schwer auf das Herz; er sehnt sich
nach einer Nahrung des Geistes, die seine Phantasie mehr auszufüllen vermöchte,
als die Vorträge der Lehrer und die bereits großentheils durchgelescncn Lehr¬
bücher. Ohne sich lange zu besinnen, wirft er die Mappe hinab in den Strom,
wendet um und begiebt sich zu einem Leihbibliothckar, mit welchem er in freund-
schaftlichem Verhältniß stand. Diesem macht er den Antrag, er wolle ihm gegen
Gewährung von Kost und Schlafstelle seine Bibliothek in Ordnung halten und


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deren Lecture er sich theoretisch zu bilden suchte. Auf diese Weise hatte er sich
als wilder Schößling selbstständig auf einen ihm bis dahin gänzlich unbekannten
Boden versetzt, in dem er vielleicht festere Wurzel geschlagen haben würde, hätte
nicht ein unerwarteter Schlag seine Chirurgen-Carriere beendigt. Er machte
nämlich — wie es bei seinem medicinischen Halbwissen nicht überraschen konnte —
bei einer der Handleistungen, zu denen er zugelassen wurde, einmal ein so arges
Versehen, daß der Arzt der Anstalt sich in heftigem Zorne zu ihm umwandte,
und mit einer Ohrfeige seine blutige Hand ans des Knaben Wange zeichnete.
Weiß verlor sein imvrovisirtes Amt, und mußte als geheilt das Krankenhaus
verlassen.

Zum Handwerk zurückzukehren lag weder in seinem Sinne, noch hätte der
schiefgeheilte Finger dies gestattet. Er beschloß daher, in die Schule zurückzu¬
kehren, und, trotz seiner funfzehn oder sechzehn Jahre, dieselbe jetzt noch durch¬
zumachen. Zum Freibesnch am Dvmgymnastum angenommen, durch einige Frei¬
tische und wenige Geldgeschenke unterstützt, führte er seinen Entschloß anch wirk¬
lich aus. Die alten Sprachen zwar ließ er, da es nach den Schulregcln erlaubt
war, bei Seite liegeu, dann aber durchlief er binnen wenigen Jahren, mit eiser¬
nem Fleiße das Ziel im Ange behaltend, die ganze Schule. In den Freistunden,
welche ihm neben der Arbeit blieben, entwickelte sich hier zuerst seine Neigung
für deu später vou ihm ergriffenen Lebensberuf. Eine Anzahl Domschüler
hatte ans dem Boden eines Privathanses ein Liebhabertheater errichtet, auf dem
sie die Werke der damals beliebtesten Bühneuschriftstcller, namenllÄ August
Kotzebue's, zur Ausführung brachten. Weiß wurde einer der eifrigsten und belieb¬
testen Darsteller. Als einer der vorgesetzten Lehrer von dem Theater-Unterneh¬
men der jungen Leute Kunde erhielt und nachforschte, was man denn eigentlich
spiele, erwiderte mau ihm, es seien Engels Schauspiele. Um die Wahrheit
dieser Aussage zu bestätigen und die Existenz des Licbhaberlhcaters zu retten,
wurde daun anch wirklich Engel's dankbarer Sohn eingeübt, und vor jenem Lehrer
zu dessen großer Befriedigung aufgeführt.

Die Ferienzeit besonders war es, welche diese Darstellungen begünstigte, und
als eine solche Zeit wieder einmal vorübergestrichen war, befand sich Weiß, mit seinen
fertigen Ferienarbeiten in der Mappe, auf dem Wege zur Schule. Er war
indessen achtzehn Jahre alt geworden. Ans der Elbbrücke angekommen, fällt ihm
die Erinnerung an die düstern Klassenzimmer schwer auf das Herz; er sehnt sich
nach einer Nahrung des Geistes, die seine Phantasie mehr auszufüllen vermöchte,
als die Vorträge der Lehrer und die bereits großentheils durchgelescncn Lehr¬
bücher. Ohne sich lange zu besinnen, wirft er die Mappe hinab in den Strom,
wendet um und begiebt sich zu einem Leihbibliothckar, mit welchem er in freund-
schaftlichem Verhältniß stand. Diesem macht er den Antrag, er wolle ihm gegen
Gewährung von Kost und Schlafstelle seine Bibliothek in Ordnung halten und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/59>, abgerufen am 02.07.2024.