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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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wir die Geschöpfe betrachten, die man jetzt noch so nennt, wird es schwer be¬
greiflich, wo der unsterbliche Dichter seine Begeisterung für sie hergenommen
hatte. Die Grisette von ehemals war.so zu sagen die Poesie unbewußter Lieder¬
lichkeit. Sie meinte es aufrichtig und brachte immer zuerst ihr Herz zum Opfer.
Sie liebte ehrlich, und wenn man ihr auch zuweilen Wankelmüthigkeit nachsagen
konnte, so'mußte mau doch zugeben, daß sie noch öfter verlassen und getäuscht
wurde. Und dann ihr neuer Geliebter hatte wieder ihr ganzes Herz; sie be¬
weinte den Ungetreuen redlich, bis ein Anderer sie zu trösten, ihre Liebe zu ge¬
winnen verstand.

Jetzt ist es anders, und namentlich die weibliche Bevölkerung des yuartivr
iÄin ist weit entfernt, dem reizenden Bilde zu entsprechen, das sich der Fremde
macht, wenn er von einer Pariser Grisette hört. Das sind nicht mehr jene
naiven Geschöpfe, welche, von der laut gewordenen Sprache ihres Herzens ge¬
trieben, in einem andern Herzen die Antwort auf die Frage suchen, durch welche
das ihrige so ungestüm pocht. Jetzt sind sie alle längst gefallene Engel, welche im
VuÄrticu- lato ästhetische und moralische Vorstudien fürs (Mrlwr notro ä-une
clvs wrottos macheu. Das Beste haben sie ohnehin schon gelernt. Die guten
Studenten sind demnach in "keiner Beziehung sehr zu beneiden. Die Latemerin
wandert von Hans zu Haus, und wechselt die mvnitxe mit jeder Jahreszeit, und
wenn sich in diesem republikanischen Stadttheile Alles duzt, so hat diese brüder¬
liche Sprache eben nicht in politischen Anschauungen ihren Grund. Man duzt
sich auch nicht wie in Tyrol ans herkömmlicher Sitte -- im (Quartier laUn nennt
man sich Du, weil man sich gut kennt. Die Stndentengrisette ist wie eine
Schwalbe, die nur so lange bleibt, als der Frühling des älterlichen Ueberflusses
im Hause des Studenten währt, über diesen hinaus macht sie ihren Knix und
^ägt ihr Nest anderwärts hin. So lange aber das häusliche Glück im Latininm
dauert, so lauge giebt's ein lustiges Lebe", und der Student thut keinen Schritt
ohne ckeiL tenens. Ins Kaffeehaus, ins Theater, zum Restaurant, auf
die Promenade, überall hin folgt ihm die heitere Lebensgefährtin, und wenn sie
das College nicht mit ihrem Besuche beehrt, so geschieht es nur darum nicht,
weil entweder unser Student auch nicht hingeht, oder weil sie diese Zwischenacte
ihren Freundinnen oder vielleicht gar weniger unschuldigen Geheimvergnügen wid¬
men zu müssen glaubt.

A>is diesem Zusammenleben folgt von selber, daß die Pariser Studenten im
Allgemeinen uicht'übermäßig viel lernen, denn wem ein Franenschooß zum Schreib¬
pulte dient, dessen Gedanken müssen sich allerlei Zerstreuungen zu Schulden kom¬
men lassen. Ferner segnet diese wilde Ehe die armen Jungen mit allerlei Qualen
einer wirklichen, er hat Famliensorgen. Endlich duldet die Grisette des guartier
latin auch aar nicht, daß ihr Geliebter sich allzusehr den Kopf anstrenge, sie be¬
trachtet die Beschäftigung mit den Bücher" als eine Untreue, und Eisersucht ist


wir die Geschöpfe betrachten, die man jetzt noch so nennt, wird es schwer be¬
greiflich, wo der unsterbliche Dichter seine Begeisterung für sie hergenommen
hatte. Die Grisette von ehemals war.so zu sagen die Poesie unbewußter Lieder¬
lichkeit. Sie meinte es aufrichtig und brachte immer zuerst ihr Herz zum Opfer.
Sie liebte ehrlich, und wenn man ihr auch zuweilen Wankelmüthigkeit nachsagen
konnte, so'mußte mau doch zugeben, daß sie noch öfter verlassen und getäuscht
wurde. Und dann ihr neuer Geliebter hatte wieder ihr ganzes Herz; sie be¬
weinte den Ungetreuen redlich, bis ein Anderer sie zu trösten, ihre Liebe zu ge¬
winnen verstand.

Jetzt ist es anders, und namentlich die weibliche Bevölkerung des yuartivr
iÄin ist weit entfernt, dem reizenden Bilde zu entsprechen, das sich der Fremde
macht, wenn er von einer Pariser Grisette hört. Das sind nicht mehr jene
naiven Geschöpfe, welche, von der laut gewordenen Sprache ihres Herzens ge¬
trieben, in einem andern Herzen die Antwort auf die Frage suchen, durch welche
das ihrige so ungestüm pocht. Jetzt sind sie alle längst gefallene Engel, welche im
VuÄrticu- lato ästhetische und moralische Vorstudien fürs (Mrlwr notro ä-une
clvs wrottos macheu. Das Beste haben sie ohnehin schon gelernt. Die guten
Studenten sind demnach in «keiner Beziehung sehr zu beneiden. Die Latemerin
wandert von Hans zu Haus, und wechselt die mvnitxe mit jeder Jahreszeit, und
wenn sich in diesem republikanischen Stadttheile Alles duzt, so hat diese brüder¬
liche Sprache eben nicht in politischen Anschauungen ihren Grund. Man duzt
sich auch nicht wie in Tyrol ans herkömmlicher Sitte — im (Quartier laUn nennt
man sich Du, weil man sich gut kennt. Die Stndentengrisette ist wie eine
Schwalbe, die nur so lange bleibt, als der Frühling des älterlichen Ueberflusses
im Hause des Studenten währt, über diesen hinaus macht sie ihren Knix und
^ägt ihr Nest anderwärts hin. So lange aber das häusliche Glück im Latininm
dauert, so lauge giebt's ein lustiges Lebe», und der Student thut keinen Schritt
ohne ckeiL tenens. Ins Kaffeehaus, ins Theater, zum Restaurant, auf
die Promenade, überall hin folgt ihm die heitere Lebensgefährtin, und wenn sie
das College nicht mit ihrem Besuche beehrt, so geschieht es nur darum nicht,
weil entweder unser Student auch nicht hingeht, oder weil sie diese Zwischenacte
ihren Freundinnen oder vielleicht gar weniger unschuldigen Geheimvergnügen wid¬
men zu müssen glaubt.

A>is diesem Zusammenleben folgt von selber, daß die Pariser Studenten im
Allgemeinen uicht'übermäßig viel lernen, denn wem ein Franenschooß zum Schreib¬
pulte dient, dessen Gedanken müssen sich allerlei Zerstreuungen zu Schulden kom¬
men lassen. Ferner segnet diese wilde Ehe die armen Jungen mit allerlei Qualen
einer wirklichen, er hat Famliensorgen. Endlich duldet die Grisette des guartier
latin auch aar nicht, daß ihr Geliebter sich allzusehr den Kopf anstrenge, sie be¬
trachtet die Beschäftigung mit den Bücher» als eine Untreue, und Eisersucht ist


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[0469] wir die Geschöpfe betrachten, die man jetzt noch so nennt, wird es schwer be¬ greiflich, wo der unsterbliche Dichter seine Begeisterung für sie hergenommen hatte. Die Grisette von ehemals war.so zu sagen die Poesie unbewußter Lieder¬ lichkeit. Sie meinte es aufrichtig und brachte immer zuerst ihr Herz zum Opfer. Sie liebte ehrlich, und wenn man ihr auch zuweilen Wankelmüthigkeit nachsagen konnte, so'mußte mau doch zugeben, daß sie noch öfter verlassen und getäuscht wurde. Und dann ihr neuer Geliebter hatte wieder ihr ganzes Herz; sie be¬ weinte den Ungetreuen redlich, bis ein Anderer sie zu trösten, ihre Liebe zu ge¬ winnen verstand. Jetzt ist es anders, und namentlich die weibliche Bevölkerung des yuartivr iÄin ist weit entfernt, dem reizenden Bilde zu entsprechen, das sich der Fremde macht, wenn er von einer Pariser Grisette hört. Das sind nicht mehr jene naiven Geschöpfe, welche, von der laut gewordenen Sprache ihres Herzens ge¬ trieben, in einem andern Herzen die Antwort auf die Frage suchen, durch welche das ihrige so ungestüm pocht. Jetzt sind sie alle längst gefallene Engel, welche im VuÄrticu- lato ästhetische und moralische Vorstudien fürs (Mrlwr notro ä-une clvs wrottos macheu. Das Beste haben sie ohnehin schon gelernt. Die guten Studenten sind demnach in «keiner Beziehung sehr zu beneiden. Die Latemerin wandert von Hans zu Haus, und wechselt die mvnitxe mit jeder Jahreszeit, und wenn sich in diesem republikanischen Stadttheile Alles duzt, so hat diese brüder¬ liche Sprache eben nicht in politischen Anschauungen ihren Grund. Man duzt sich auch nicht wie in Tyrol ans herkömmlicher Sitte — im (Quartier laUn nennt man sich Du, weil man sich gut kennt. Die Stndentengrisette ist wie eine Schwalbe, die nur so lange bleibt, als der Frühling des älterlichen Ueberflusses im Hause des Studenten währt, über diesen hinaus macht sie ihren Knix und ^ägt ihr Nest anderwärts hin. So lange aber das häusliche Glück im Latininm dauert, so lauge giebt's ein lustiges Lebe», und der Student thut keinen Schritt ohne ckeiL tenens. Ins Kaffeehaus, ins Theater, zum Restaurant, auf die Promenade, überall hin folgt ihm die heitere Lebensgefährtin, und wenn sie das College nicht mit ihrem Besuche beehrt, so geschieht es nur darum nicht, weil entweder unser Student auch nicht hingeht, oder weil sie diese Zwischenacte ihren Freundinnen oder vielleicht gar weniger unschuldigen Geheimvergnügen wid¬ men zu müssen glaubt. A>is diesem Zusammenleben folgt von selber, daß die Pariser Studenten im Allgemeinen uicht'übermäßig viel lernen, denn wem ein Franenschooß zum Schreib¬ pulte dient, dessen Gedanken müssen sich allerlei Zerstreuungen zu Schulden kom¬ men lassen. Ferner segnet diese wilde Ehe die armen Jungen mit allerlei Qualen einer wirklichen, er hat Famliensorgen. Endlich duldet die Grisette des guartier latin auch aar nicht, daß ihr Geliebter sich allzusehr den Kopf anstrenge, sie be¬ trachtet die Beschäftigung mit den Bücher» als eine Untreue, und Eisersucht ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/469>, abgerufen am 04.07.2024.