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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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bleiben, wir könnten ruhig zusehen, was sich aus der Dialektik zweier Vorstel¬
lungen, von denen die eine das Wunder als etwas Natürliches, die andere als
etwas Uebernatürliches begreift, entwickeln wird, ja wir könnten kaum sagen, daß
wir eine warme Theilnahme für die eine oder die andere der beiden Seiten
empfänden; allein es handelt sich hier nicht blos um uns, die wir uns von den
Einflüssen von dieser. Seite her ziemlich frei gemacht haben, sondern um die
ganze Generation, und da kann es uns allerdings nicht gleichgiltig sein, ob die
große Masse des Volks sich daran gewöhnt, einen unsrem Verstand entgegengesetzten
Verstand, ein unsrem Gefühl entgegengesetztes Gefühl als heilig und unfehlbar
zu verehren.

Denn der Supranaturalismus bezieht sich uicht allem auf das Denken, son¬
dern auch auf das Empfinden. Wenn er sich lediglich im Gebiet der Intelligenz
bewegte, so wäre keine so große Gefahr dabei, denn die Wissenschaft hat seit
Galilei's Zeiten nach allen Seiten hin so feste Verschanzungen aufgeworfen, daß
man ganze Legionen von Jesuiten zum Sturm gegen dieselbe antreiben konnte,
ohne ihr anch nur den kleinste" Vorposten zu entziehen; und wenn die Wissen¬
schaft auch keineswegs das Niveau der allgemeinen Bildung ausdrückt, so ist sie
doch eine uneinnehmbare Festung, in welche versprengte Freicorps sich zurück¬
ziehen können, und von wo aus der Feind auch in den schlimmsten Umständen
mit Erfolg zu bekämpfen sein wird.

Mit unsrem sittlichen Empfinden ist es aber anders. Dasselbe erfreut sich
keineswegs der Sicherheit und Integrität der wissenschaftlichen Erkenntniß, im
Gegentheil sind wir, die Sohne der Romantik, in unsrem Gefühl viel unklarer
und schwankender, als es selbst im vorigen Jahrhundert der Fall war. Es
kann uns also nicht gleichgiltig sein, daß man der Menge, die nach irgend
einem Glauben lechzt, von welcher Seite er auch kommen möge, Heiligenbilder
und Reliquien zur Anbetung darreicht, die nicht die unsrigen sind, daß man sie
in Geschichten und allgemeinen Grundsätzen Ideale verehren lehrt, die uns als
Götzenbilder erscheinen. -- Es handelt sich hier nicht blos um den Inhalt der
neuen Orthodoxie, sondern um die Träger derselbe".

Es ist noch kein volles Menschenalter her, daß der Nationalismus durch
ganz Deutschland ziemlich die ausschließliche Herrschaft hatte; in einzelnen Gegen¬
den, z. B. in Sachsen, herrschte er sogar geradezu despotisch. In der religiösen
Reaction, die sich seit der Zeit überall erhoben hat, sehen wir auf der einen
Seite zwar allerdings die Empörung glaubensbedürftiger Gemüther gegen ein
leeres und unfruchtbares System, gegen eine Halbheit, die weder dem Verstand,
noch dem Herzen genügt, und wir sind vollkommen überzeugt, daß ein Theil der
"euerweckteu Rechtgläubigkeit aus einer an sich ganz berechtigten Sehnsucht her¬
vorging ; aber auch nur ein Theil. Leider haben sich die Regierungen der Sache
angenommen, und die Frömmigkeit durch äußerliche Begünstigungen zu fördern


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bleiben, wir könnten ruhig zusehen, was sich aus der Dialektik zweier Vorstel¬
lungen, von denen die eine das Wunder als etwas Natürliches, die andere als
etwas Uebernatürliches begreift, entwickeln wird, ja wir könnten kaum sagen, daß
wir eine warme Theilnahme für die eine oder die andere der beiden Seiten
empfänden; allein es handelt sich hier nicht blos um uns, die wir uns von den
Einflüssen von dieser. Seite her ziemlich frei gemacht haben, sondern um die
ganze Generation, und da kann es uns allerdings nicht gleichgiltig sein, ob die
große Masse des Volks sich daran gewöhnt, einen unsrem Verstand entgegengesetzten
Verstand, ein unsrem Gefühl entgegengesetztes Gefühl als heilig und unfehlbar
zu verehren.

Denn der Supranaturalismus bezieht sich uicht allem auf das Denken, son¬
dern auch auf das Empfinden. Wenn er sich lediglich im Gebiet der Intelligenz
bewegte, so wäre keine so große Gefahr dabei, denn die Wissenschaft hat seit
Galilei's Zeiten nach allen Seiten hin so feste Verschanzungen aufgeworfen, daß
man ganze Legionen von Jesuiten zum Sturm gegen dieselbe antreiben konnte,
ohne ihr anch nur den kleinste» Vorposten zu entziehen; und wenn die Wissen¬
schaft auch keineswegs das Niveau der allgemeinen Bildung ausdrückt, so ist sie
doch eine uneinnehmbare Festung, in welche versprengte Freicorps sich zurück¬
ziehen können, und von wo aus der Feind auch in den schlimmsten Umständen
mit Erfolg zu bekämpfen sein wird.

Mit unsrem sittlichen Empfinden ist es aber anders. Dasselbe erfreut sich
keineswegs der Sicherheit und Integrität der wissenschaftlichen Erkenntniß, im
Gegentheil sind wir, die Sohne der Romantik, in unsrem Gefühl viel unklarer
und schwankender, als es selbst im vorigen Jahrhundert der Fall war. Es
kann uns also nicht gleichgiltig sein, daß man der Menge, die nach irgend
einem Glauben lechzt, von welcher Seite er auch kommen möge, Heiligenbilder
und Reliquien zur Anbetung darreicht, die nicht die unsrigen sind, daß man sie
in Geschichten und allgemeinen Grundsätzen Ideale verehren lehrt, die uns als
Götzenbilder erscheinen. — Es handelt sich hier nicht blos um den Inhalt der
neuen Orthodoxie, sondern um die Träger derselbe».

Es ist noch kein volles Menschenalter her, daß der Nationalismus durch
ganz Deutschland ziemlich die ausschließliche Herrschaft hatte; in einzelnen Gegen¬
den, z. B. in Sachsen, herrschte er sogar geradezu despotisch. In der religiösen
Reaction, die sich seit der Zeit überall erhoben hat, sehen wir auf der einen
Seite zwar allerdings die Empörung glaubensbedürftiger Gemüther gegen ein
leeres und unfruchtbares System, gegen eine Halbheit, die weder dem Verstand,
noch dem Herzen genügt, und wir sind vollkommen überzeugt, daß ein Theil der
»euerweckteu Rechtgläubigkeit aus einer an sich ganz berechtigten Sehnsucht her¬
vorging ; aber auch nur ein Theil. Leider haben sich die Regierungen der Sache
angenommen, und die Frömmigkeit durch äußerliche Begünstigungen zu fördern


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[0435] bleiben, wir könnten ruhig zusehen, was sich aus der Dialektik zweier Vorstel¬ lungen, von denen die eine das Wunder als etwas Natürliches, die andere als etwas Uebernatürliches begreift, entwickeln wird, ja wir könnten kaum sagen, daß wir eine warme Theilnahme für die eine oder die andere der beiden Seiten empfänden; allein es handelt sich hier nicht blos um uns, die wir uns von den Einflüssen von dieser. Seite her ziemlich frei gemacht haben, sondern um die ganze Generation, und da kann es uns allerdings nicht gleichgiltig sein, ob die große Masse des Volks sich daran gewöhnt, einen unsrem Verstand entgegengesetzten Verstand, ein unsrem Gefühl entgegengesetztes Gefühl als heilig und unfehlbar zu verehren. Denn der Supranaturalismus bezieht sich uicht allem auf das Denken, son¬ dern auch auf das Empfinden. Wenn er sich lediglich im Gebiet der Intelligenz bewegte, so wäre keine so große Gefahr dabei, denn die Wissenschaft hat seit Galilei's Zeiten nach allen Seiten hin so feste Verschanzungen aufgeworfen, daß man ganze Legionen von Jesuiten zum Sturm gegen dieselbe antreiben konnte, ohne ihr anch nur den kleinste» Vorposten zu entziehen; und wenn die Wissen¬ schaft auch keineswegs das Niveau der allgemeinen Bildung ausdrückt, so ist sie doch eine uneinnehmbare Festung, in welche versprengte Freicorps sich zurück¬ ziehen können, und von wo aus der Feind auch in den schlimmsten Umständen mit Erfolg zu bekämpfen sein wird. Mit unsrem sittlichen Empfinden ist es aber anders. Dasselbe erfreut sich keineswegs der Sicherheit und Integrität der wissenschaftlichen Erkenntniß, im Gegentheil sind wir, die Sohne der Romantik, in unsrem Gefühl viel unklarer und schwankender, als es selbst im vorigen Jahrhundert der Fall war. Es kann uns also nicht gleichgiltig sein, daß man der Menge, die nach irgend einem Glauben lechzt, von welcher Seite er auch kommen möge, Heiligenbilder und Reliquien zur Anbetung darreicht, die nicht die unsrigen sind, daß man sie in Geschichten und allgemeinen Grundsätzen Ideale verehren lehrt, die uns als Götzenbilder erscheinen. — Es handelt sich hier nicht blos um den Inhalt der neuen Orthodoxie, sondern um die Träger derselbe». Es ist noch kein volles Menschenalter her, daß der Nationalismus durch ganz Deutschland ziemlich die ausschließliche Herrschaft hatte; in einzelnen Gegen¬ den, z. B. in Sachsen, herrschte er sogar geradezu despotisch. In der religiösen Reaction, die sich seit der Zeit überall erhoben hat, sehen wir auf der einen Seite zwar allerdings die Empörung glaubensbedürftiger Gemüther gegen ein leeres und unfruchtbares System, gegen eine Halbheit, die weder dem Verstand, noch dem Herzen genügt, und wir sind vollkommen überzeugt, daß ein Theil der »euerweckteu Rechtgläubigkeit aus einer an sich ganz berechtigten Sehnsucht her¬ vorging ; aber auch nur ein Theil. Leider haben sich die Regierungen der Sache angenommen, und die Frömmigkeit durch äußerliche Begünstigungen zu fördern Si»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/435>, abgerufen am 02.07.2024.