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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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er in seinen Betrachtungen über Politik so gern zur Schau trug, durch und
durch Socialist war, hatte bald den Krebsschaden unsrer Zeit, den financiellen
Materialismus erkannt, und mit seinem ganzen Hasse verfolgt. Bei seinen anato¬
mischen Studien über die moderne Gesellschaft kam er zu dem Resultate, daß
Gold und das Vergnügen die einzigen Hebel seien, welche Paris in Bewegung
setzen, und diese genane Kenntniß der innern Triebfeder der Französischen Ge¬
sellschaft führte ihn zur Schöpfung einer Galerie von Gestalten, die sich in seiner
Idee zu einer Komödie des menschlichen Lebens erweitern und auswachsen sollte.
Balzac hatte die Eigenschaft genialer Naturhistoriker, kühne Hypothesen aufzu¬
stellen, die nnr in seiner Phantasie begründet zu sein scheinen, die aber in der
That ein instructives Zusammenfassen von Folgerungen ans Erfahrungssätzen siud,
und deren mathematische Genauigkeit und metaphysische Richtigkeit er jedesmal
ans dem Wege des analytischen Processes nachwies. Balzac hatte die Gabe, in
die geheimsten Falten der menschlichen Seele zu blicken., weil er das Talent hatte,
die Typen aus der Menge herauszufinden, welche ihm dann, so zu sagen, als
Rahmen für seine Armee dienten. Es giebt wol keinen Schriftsteller der neuern
Zeit, der so vielfache Experimente an der menschlichen Gesellschaft angestellt, wie
eben Balzac, denn bei seiner merkwürdigan Lebensweise, die ihn hänfig vom
Gipfel des Reichthums in de" Abgrund der tiefsten Armuth stürzte, hatte er
Gelegenheit, alle Klassen genau kennen zu lernen, und da er, wie bemerkt,
sich immer an die gelungenste Species hielt und diese aufzufinden wußte, war
es ihm möglich, schneller und dem Scheine nach blos auf dem innern Anschau¬
ungswege zu dem außerordentlichsten Resultate zu gelangen. Er fand überall
und nach allen Seiten hin einen dichten Schlagschatten über unsre Gesellschaft
ausgebreitet: die Habsucht. Der Stein der Weisen, wie ihn die alte Chenuc
suchte, die Bestrebungen Gold zu machen, die Alchymie hat in unsrer modernen
Tendenzen einen neuen und intensivem Ausdruck gefunden: Geld ist Alles; mit
Geld hat man Ruhm, Ehre, Tugend, das Vergnügen und sogar Weisheit uno
Gesundheit. Balzac glaubte also blos die modernen Adepten, wie sie sich ^"
allen Kreise" der Speculation zeigen, schildern zu müssen, um die Gesellschaft
geschildert zu haben. Darum drehen sich anch fast alle seine Romane um das
eine Moment, und in diesem Sinne kann man seine Werke in der That eine --
vielleicht einseitige Sittengeschichte der Jetztzeit nennen, nud mau kaun dem
Dichter die Anmaßung verzeihen, eine "Komödie des menschlichen Lebens" an¬
gestrebt zu haben. Daß Balzac eben so gut Naturhistoriker war als Poet, dies
beweist seine Vorliebe, mit der er auf merkwürdige Menschen-Exemplare Jagd
machte, mochten diese nun im Gefängnisse oder ans der Straße zu finden g^
wesen sein. Balzac war bestürmt von sogenannten Projectenmachern, und er ging
auch ans die extravagantesten Unternehmungen ein, wenn nur der Mann, der
sie vorschlug, sich der Mühe lohnte. Er ließ sich betrügen, wenn der Betrüger


er in seinen Betrachtungen über Politik so gern zur Schau trug, durch und
durch Socialist war, hatte bald den Krebsschaden unsrer Zeit, den financiellen
Materialismus erkannt, und mit seinem ganzen Hasse verfolgt. Bei seinen anato¬
mischen Studien über die moderne Gesellschaft kam er zu dem Resultate, daß
Gold und das Vergnügen die einzigen Hebel seien, welche Paris in Bewegung
setzen, und diese genane Kenntniß der innern Triebfeder der Französischen Ge¬
sellschaft führte ihn zur Schöpfung einer Galerie von Gestalten, die sich in seiner
Idee zu einer Komödie des menschlichen Lebens erweitern und auswachsen sollte.
Balzac hatte die Eigenschaft genialer Naturhistoriker, kühne Hypothesen aufzu¬
stellen, die nnr in seiner Phantasie begründet zu sein scheinen, die aber in der
That ein instructives Zusammenfassen von Folgerungen ans Erfahrungssätzen siud,
und deren mathematische Genauigkeit und metaphysische Richtigkeit er jedesmal
ans dem Wege des analytischen Processes nachwies. Balzac hatte die Gabe, in
die geheimsten Falten der menschlichen Seele zu blicken., weil er das Talent hatte,
die Typen aus der Menge herauszufinden, welche ihm dann, so zu sagen, als
Rahmen für seine Armee dienten. Es giebt wol keinen Schriftsteller der neuern
Zeit, der so vielfache Experimente an der menschlichen Gesellschaft angestellt, wie
eben Balzac, denn bei seiner merkwürdigan Lebensweise, die ihn hänfig vom
Gipfel des Reichthums in de» Abgrund der tiefsten Armuth stürzte, hatte er
Gelegenheit, alle Klassen genau kennen zu lernen, und da er, wie bemerkt,
sich immer an die gelungenste Species hielt und diese aufzufinden wußte, war
es ihm möglich, schneller und dem Scheine nach blos auf dem innern Anschau¬
ungswege zu dem außerordentlichsten Resultate zu gelangen. Er fand überall
und nach allen Seiten hin einen dichten Schlagschatten über unsre Gesellschaft
ausgebreitet: die Habsucht. Der Stein der Weisen, wie ihn die alte Chenuc
suchte, die Bestrebungen Gold zu machen, die Alchymie hat in unsrer modernen
Tendenzen einen neuen und intensivem Ausdruck gefunden: Geld ist Alles; mit
Geld hat man Ruhm, Ehre, Tugend, das Vergnügen und sogar Weisheit uno
Gesundheit. Balzac glaubte also blos die modernen Adepten, wie sie sich ^"
allen Kreise» der Speculation zeigen, schildern zu müssen, um die Gesellschaft
geschildert zu haben. Darum drehen sich anch fast alle seine Romane um das
eine Moment, und in diesem Sinne kann man seine Werke in der That eine —
vielleicht einseitige Sittengeschichte der Jetztzeit nennen, nud mau kaun dem
Dichter die Anmaßung verzeihen, eine „Komödie des menschlichen Lebens" an¬
gestrebt zu haben. Daß Balzac eben so gut Naturhistoriker war als Poet, dies
beweist seine Vorliebe, mit der er auf merkwürdige Menschen-Exemplare Jagd
machte, mochten diese nun im Gefängnisse oder ans der Straße zu finden g^
wesen sein. Balzac war bestürmt von sogenannten Projectenmachern, und er ging
auch ans die extravagantesten Unternehmungen ein, wenn nur der Mann, der
sie vorschlug, sich der Mühe lohnte. Er ließ sich betrügen, wenn der Betrüger


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[0420] er in seinen Betrachtungen über Politik so gern zur Schau trug, durch und durch Socialist war, hatte bald den Krebsschaden unsrer Zeit, den financiellen Materialismus erkannt, und mit seinem ganzen Hasse verfolgt. Bei seinen anato¬ mischen Studien über die moderne Gesellschaft kam er zu dem Resultate, daß Gold und das Vergnügen die einzigen Hebel seien, welche Paris in Bewegung setzen, und diese genane Kenntniß der innern Triebfeder der Französischen Ge¬ sellschaft führte ihn zur Schöpfung einer Galerie von Gestalten, die sich in seiner Idee zu einer Komödie des menschlichen Lebens erweitern und auswachsen sollte. Balzac hatte die Eigenschaft genialer Naturhistoriker, kühne Hypothesen aufzu¬ stellen, die nnr in seiner Phantasie begründet zu sein scheinen, die aber in der That ein instructives Zusammenfassen von Folgerungen ans Erfahrungssätzen siud, und deren mathematische Genauigkeit und metaphysische Richtigkeit er jedesmal ans dem Wege des analytischen Processes nachwies. Balzac hatte die Gabe, in die geheimsten Falten der menschlichen Seele zu blicken., weil er das Talent hatte, die Typen aus der Menge herauszufinden, welche ihm dann, so zu sagen, als Rahmen für seine Armee dienten. Es giebt wol keinen Schriftsteller der neuern Zeit, der so vielfache Experimente an der menschlichen Gesellschaft angestellt, wie eben Balzac, denn bei seiner merkwürdigan Lebensweise, die ihn hänfig vom Gipfel des Reichthums in de» Abgrund der tiefsten Armuth stürzte, hatte er Gelegenheit, alle Klassen genau kennen zu lernen, und da er, wie bemerkt, sich immer an die gelungenste Species hielt und diese aufzufinden wußte, war es ihm möglich, schneller und dem Scheine nach blos auf dem innern Anschau¬ ungswege zu dem außerordentlichsten Resultate zu gelangen. Er fand überall und nach allen Seiten hin einen dichten Schlagschatten über unsre Gesellschaft ausgebreitet: die Habsucht. Der Stein der Weisen, wie ihn die alte Chenuc suchte, die Bestrebungen Gold zu machen, die Alchymie hat in unsrer modernen Tendenzen einen neuen und intensivem Ausdruck gefunden: Geld ist Alles; mit Geld hat man Ruhm, Ehre, Tugend, das Vergnügen und sogar Weisheit uno Gesundheit. Balzac glaubte also blos die modernen Adepten, wie sie sich ^" allen Kreise» der Speculation zeigen, schildern zu müssen, um die Gesellschaft geschildert zu haben. Darum drehen sich anch fast alle seine Romane um das eine Moment, und in diesem Sinne kann man seine Werke in der That eine — vielleicht einseitige Sittengeschichte der Jetztzeit nennen, nud mau kaun dem Dichter die Anmaßung verzeihen, eine „Komödie des menschlichen Lebens" an¬ gestrebt zu haben. Daß Balzac eben so gut Naturhistoriker war als Poet, dies beweist seine Vorliebe, mit der er auf merkwürdige Menschen-Exemplare Jagd machte, mochten diese nun im Gefängnisse oder ans der Straße zu finden g^ wesen sein. Balzac war bestürmt von sogenannten Projectenmachern, und er ging auch ans die extravagantesten Unternehmungen ein, wenn nur der Mann, der sie vorschlug, sich der Mühe lohnte. Er ließ sich betrügen, wenn der Betrüger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/420>, abgerufen am 02.07.2024.