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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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seines Verstandes und seines Herzens. Sein Herz schlägt für die alte Dynastie,
und grollt mit ihren Widersachern; sein Verstand entscheidet sich für die Republik.
Das ist ein sehr bedenklicher Zustand, nicht blos für den Staatsmann, der un-
mittelbar in die Verwickelung der Gegenwart einzugreifen berufe" ist, und der zu
keiner Einheit seines Thuns gelangen wird, wenn Gefühl und Ueberlegung ihm
verschiedene Wege weisen, sondern auch sür den Geschichtschreiber. Das Gefühl,
welches sich vom Verstände trennt, artet gar zu leicht in spielende romantische
Empfindsamseit aus, und der Verstand, der sich dieses Gefühls nicht zu bemächtigen
versteht, wird bald zu kalter, gegcustandloser, unfruchtbarer Reflexion. Nur das
vom Verstand corrigirte Herz, nur der vom Herzen erfüllte und belebte Verstand
haben Werth im menschlichen Leben.

Fast sieht es so aus, als ob dieser Conflict sich auch bei den andern weniger
der Literatur angehörigen Gebiete" geltend machen sollte. Seit seiner ersten Reise
iach dem Orient, in der Lamartine wenigstens zum Theil als Schüler Chateau-
briand's auftrat, hat sich in ihm die Idee festgesetzt, die Europäischen Verwicke¬
lungen konnten nur dadurch gelöst werdeu, daß Europa sich mit vereinigter Kraft
auf die Kolonisation des Orients wirft. Diesen Gedanken, in dem an sich etwas
Wahres ist, der aber nur baun Frucht tragen kann, wenn man ihn auf einzelne
concrete Verhältnisse anwendet, hat Lamartine während seiner parlamentarischen
Laufbahn in beständigen Wiederholungen ausgebeutet, vou denen immer die eine
so allgemein gehalten und daher so - unfruchtbar war, als die andere. Seit der
ätzten Revolution aber hat ihm der Sultan einen ziemlich großen unbebaute"
Landstrich zur Verfügung gestellt, um dort seine Colouisationspläue in Ausführung
M bringen. Er ist auch mit seiner gewöhnlichen Leichtfertigkeit sofort ans Werk
gegangen, ohne daß der Erfolg seinen Erwartungen entspräche. Die armen
Leute, die er hingelockt hat, siud meistens zu Grunde gegangen, und trotzdem fährt
^' mit seinen Predigten fort. Lamartine ist überhaupt ein merkwürdiges Beispiel
von jener Mischung, die "tan nicht selten bei den Franzosen findet, phantastischer
Sentimentalität und frivoler, leichtsinniger Reflexion. Er ist darum merkwürdig,
weil er diese Mischung, die sonst gewöhnlich uicht jus Bewußtsein tritt, zu einer
Art System ausgebildet hat und sich dadurch gerechtfertigt glaubt. Der Verstand
Ja, das Herz sagt Nein, aber Beide reden lebhaft und vernehmlich, der
Dichter besitzt also Beides in hohem Maße, und dieser Besitz tröstet ihn über
deu Mangel an Harmonie zwischen Beiden, in der doch lediglich die Realität des
Einen wie des Andern beruht.




seines Verstandes und seines Herzens. Sein Herz schlägt für die alte Dynastie,
und grollt mit ihren Widersachern; sein Verstand entscheidet sich für die Republik.
Das ist ein sehr bedenklicher Zustand, nicht blos für den Staatsmann, der un-
mittelbar in die Verwickelung der Gegenwart einzugreifen berufe» ist, und der zu
keiner Einheit seines Thuns gelangen wird, wenn Gefühl und Ueberlegung ihm
verschiedene Wege weisen, sondern auch sür den Geschichtschreiber. Das Gefühl,
welches sich vom Verstände trennt, artet gar zu leicht in spielende romantische
Empfindsamseit aus, und der Verstand, der sich dieses Gefühls nicht zu bemächtigen
versteht, wird bald zu kalter, gegcustandloser, unfruchtbarer Reflexion. Nur das
vom Verstand corrigirte Herz, nur der vom Herzen erfüllte und belebte Verstand
haben Werth im menschlichen Leben.

Fast sieht es so aus, als ob dieser Conflict sich auch bei den andern weniger
der Literatur angehörigen Gebiete» geltend machen sollte. Seit seiner ersten Reise
iach dem Orient, in der Lamartine wenigstens zum Theil als Schüler Chateau-
briand's auftrat, hat sich in ihm die Idee festgesetzt, die Europäischen Verwicke¬
lungen konnten nur dadurch gelöst werdeu, daß Europa sich mit vereinigter Kraft
auf die Kolonisation des Orients wirft. Diesen Gedanken, in dem an sich etwas
Wahres ist, der aber nur baun Frucht tragen kann, wenn man ihn auf einzelne
concrete Verhältnisse anwendet, hat Lamartine während seiner parlamentarischen
Laufbahn in beständigen Wiederholungen ausgebeutet, vou denen immer die eine
so allgemein gehalten und daher so - unfruchtbar war, als die andere. Seit der
ätzten Revolution aber hat ihm der Sultan einen ziemlich großen unbebaute»
Landstrich zur Verfügung gestellt, um dort seine Colouisationspläue in Ausführung
M bringen. Er ist auch mit seiner gewöhnlichen Leichtfertigkeit sofort ans Werk
gegangen, ohne daß der Erfolg seinen Erwartungen entspräche. Die armen
Leute, die er hingelockt hat, siud meistens zu Grunde gegangen, und trotzdem fährt
^' mit seinen Predigten fort. Lamartine ist überhaupt ein merkwürdiges Beispiel
von jener Mischung, die »tan nicht selten bei den Franzosen findet, phantastischer
Sentimentalität und frivoler, leichtsinniger Reflexion. Er ist darum merkwürdig,
weil er diese Mischung, die sonst gewöhnlich uicht jus Bewußtsein tritt, zu einer
Art System ausgebildet hat und sich dadurch gerechtfertigt glaubt. Der Verstand
Ja, das Herz sagt Nein, aber Beide reden lebhaft und vernehmlich, der
Dichter besitzt also Beides in hohem Maße, und dieser Besitz tröstet ihn über
deu Mangel an Harmonie zwischen Beiden, in der doch lediglich die Realität des
Einen wie des Andern beruht.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/319>, abgerufen am 23.07.2024.