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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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meßliche Gebiet der deutschen Sprachentwicklung von jenen Urzeiten bis auf den
heutigen Tag herein, sondern nur die Periode, innerhalb welcher eine Reihe großer
physicalischer Revolutionen in der Sprache vollzogen wurde, die ihr in ihrer sinn¬
lichen Gestaltung das specifisch deutsche Gepräge ausdrückten. Diese Vorgänge,
welche nicht blos für das engere Gebiet der Sprachgeschichte, sondern auch für die
Culturgeschichte im weitesten Sinne des Worts ein unendliches Interesse haben,
sind zwar alle schon in der deutscheu Grammatik als die Grundtypen der äußeren
Gestalt unserer Sprache aufgefunden und gewürdigt worden, aber die volle Ein¬
sicht in ihre Bedeutung in ihren gegenseitigen Zusammenhang und ihre Verbin¬
dung mit der gleichzeitigen Entwicklungsgeschichte des Volks geht erst hier auf.
Ich erwähne nur das eine, daß derzeit noch ihr Ende auch mit dem Ende der vormit¬
telalterlichen deutschen Geschichte zusammentrifft, mit der Epoche, wo das deutsche
Volk die Periode des unruhigen Hin- und Herdräugens und Gedrängtwerdens
hinter sich hatte, wo es sich aus dem Heidenthum in das Christenthum und in
die Traditionen der antiken Weltcultur in Kirche, Staat, Recht, Kunst und
Literatur gefügt hatte. --

Man wird jene Stufe geschichtlicher Entwicklung am Besten mit dem Namen
"deutsche Urgeschichte" bezeichnen und dem entsprechend wäre auch der richtige
Titel dieses Buchs: "Urgeschichte der deutschen Sprache."

Bekanntlich führt uns unsere historische Kenntniß mitten hinein in jene furcht¬
baren Revolutionen, womit der antiken Weltcultur von anßen her der Untergang
gebracht wurde. Wenn unser Volk zuerst in seinem heutigen Lande oder auch nur
in Europa erschienen ist, von wo ans die Invasion geschah, wie seine Stellung
zu Celten und Slaven und den andern Nachbarvölkern von jenem ersten Augen¬
blick der Berührung bis zu dem Beginn einer freilich sehr lückenhaften historischen
Kenntniß sich umgestaltet hat, aus welchen nachhaltigen Ursachen es vorwärts ge¬
trieben wurde -- das sind Fragen, auf welche keine Antwort gegeben werden
kann. Wir begegnen ihm in Mitte seines Laufes und sehen wohl wohin er führt,
aber nicht woher oder warum überhaupt? Noch rathloser sind wir in dem Ge¬
biete der sogenannten inneren Geschichte. Wie und seit wenn hat sich diese ganz
entschieden ausgeprägte deutsche Volksthümlichkeit in Glauben und Sitte, in Recht
und Kunst, im Staats- und Kriegswesen gebildet? Als eine relativ fertige begeg¬
net sie uns am Beginne der historischen Ueberlieferung und damit ist nichts ge¬
wonnen für die Kenntniß ihrer Entstehung. Ganz ähnlich ist es auf dem Ge¬
biete der Urgeschichte der Sprache. Auch hier gleich beim ersten erhaltenen Sprach¬
denkmal, irgend einem von den Römern überlieferten, germanischen Worte und
noch mehr in den umfangreichen Resten der gothischen Literatur eine Fülle von
selbstständigen Erscheinungen, vor denen die Forschung gerade so stille stehen muß,
nach der Natur des vorhandenen Stoffes, wie dort. Sie sieht nun zwar unter
ihren Augen eine Weiterentwicklung, die ihr Analogien und Hypothesen auch für


meßliche Gebiet der deutschen Sprachentwicklung von jenen Urzeiten bis auf den
heutigen Tag herein, sondern nur die Periode, innerhalb welcher eine Reihe großer
physicalischer Revolutionen in der Sprache vollzogen wurde, die ihr in ihrer sinn¬
lichen Gestaltung das specifisch deutsche Gepräge ausdrückten. Diese Vorgänge,
welche nicht blos für das engere Gebiet der Sprachgeschichte, sondern auch für die
Culturgeschichte im weitesten Sinne des Worts ein unendliches Interesse haben,
sind zwar alle schon in der deutscheu Grammatik als die Grundtypen der äußeren
Gestalt unserer Sprache aufgefunden und gewürdigt worden, aber die volle Ein¬
sicht in ihre Bedeutung in ihren gegenseitigen Zusammenhang und ihre Verbin¬
dung mit der gleichzeitigen Entwicklungsgeschichte des Volks geht erst hier auf.
Ich erwähne nur das eine, daß derzeit noch ihr Ende auch mit dem Ende der vormit¬
telalterlichen deutschen Geschichte zusammentrifft, mit der Epoche, wo das deutsche
Volk die Periode des unruhigen Hin- und Herdräugens und Gedrängtwerdens
hinter sich hatte, wo es sich aus dem Heidenthum in das Christenthum und in
die Traditionen der antiken Weltcultur in Kirche, Staat, Recht, Kunst und
Literatur gefügt hatte. —

Man wird jene Stufe geschichtlicher Entwicklung am Besten mit dem Namen
„deutsche Urgeschichte" bezeichnen und dem entsprechend wäre auch der richtige
Titel dieses Buchs: „Urgeschichte der deutschen Sprache."

Bekanntlich führt uns unsere historische Kenntniß mitten hinein in jene furcht¬
baren Revolutionen, womit der antiken Weltcultur von anßen her der Untergang
gebracht wurde. Wenn unser Volk zuerst in seinem heutigen Lande oder auch nur
in Europa erschienen ist, von wo ans die Invasion geschah, wie seine Stellung
zu Celten und Slaven und den andern Nachbarvölkern von jenem ersten Augen¬
blick der Berührung bis zu dem Beginn einer freilich sehr lückenhaften historischen
Kenntniß sich umgestaltet hat, aus welchen nachhaltigen Ursachen es vorwärts ge¬
trieben wurde — das sind Fragen, auf welche keine Antwort gegeben werden
kann. Wir begegnen ihm in Mitte seines Laufes und sehen wohl wohin er führt,
aber nicht woher oder warum überhaupt? Noch rathloser sind wir in dem Ge¬
biete der sogenannten inneren Geschichte. Wie und seit wenn hat sich diese ganz
entschieden ausgeprägte deutsche Volksthümlichkeit in Glauben und Sitte, in Recht
und Kunst, im Staats- und Kriegswesen gebildet? Als eine relativ fertige begeg¬
net sie uns am Beginne der historischen Ueberlieferung und damit ist nichts ge¬
wonnen für die Kenntniß ihrer Entstehung. Ganz ähnlich ist es auf dem Ge¬
biete der Urgeschichte der Sprache. Auch hier gleich beim ersten erhaltenen Sprach¬
denkmal, irgend einem von den Römern überlieferten, germanischen Worte und
noch mehr in den umfangreichen Resten der gothischen Literatur eine Fülle von
selbstständigen Erscheinungen, vor denen die Forschung gerade so stille stehen muß,
nach der Natur des vorhandenen Stoffes, wie dort. Sie sieht nun zwar unter
ihren Augen eine Weiterentwicklung, die ihr Analogien und Hypothesen auch für


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/61>, abgerufen am 24.07.2024.