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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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wirklichen oder geborenen Schulmeistern und umnebelt bekanntlich bis heutigen
Tags die Köpfe dieser guten Leute noch so sehr, daß sie allem in Masse keine
Ahnung von dem Tag habe", der unterdessen aufgegangen ist.

Es war somit kein Muster vorhanden, an welches sich der Versuch einer
deutschn: Grammatik anlehnen konnte. Alle Wege mußten erst selbst gefunden
und selbst gebahnt werden. Bedenkt man nun, daß der Stoss zu der Arbeit aus
der umfangreichsten Literatur der Welt vou allen Ecken und Enden her zusam¬
mengeholt werden mußte, aus einer Literatur, die in ihrem tausendjährigen Be¬
stände von einer ebenfalls nirgends auf ähnliche Weise vorkommenden Veränderung,
Umschmelzung, Erneuerung, Vcrsiegung und Wiederbelebung des ganzen Sprach¬
zustandes Zeugniß ablegte, so kann es nur Wunder nehmen, wie es einem mensch¬
lichen Fleiß und menschlicher Geisteskraft möglich geworden ist, sich durch alle
diese Gebirge vou Stoff hindurch zu arbeiten und mit einer verhältnißmäßig so
reinlich durchgeführten Kritik das wirklich wissenschaftlich Bedeutungsvolle so zu
sondern und zu organisiren, wie es Jacob Grimm auf den ersten Wurf eben in
jeuer löschpapiernen ersten Ausgabe deö ersten Theils seiner Grammatik gelungen
ist. -- Daß an sehr vielen Stellen der Stoff nicht gebändigt und verarbeitet wer¬
den konnte, daß manche zum ersten Mal gefundene Principien nur mehr geahnt,
als wirklich klar ausgesprochen waren, daß überhaupt die ganze Arbeit mehr wie
ein! Concept, als wie ein fertiges Buch aussah, entschuldigt sich leicht aus den
erwähnten Vorbedingungen, aber entschuldigt es auch einigermaßen, daß Anfangs
ihre Früchte mir auf einen kleineren Kreis von wirklich Mitstrebenden beschränkt
blieben. Jeder der folgenden drei Bände und der verschiedenen Auflagen des
ersten näherte sich immer mehr einer menschlich-lesbaren Form von Innen und
Außen, bis dieser Prozeß, Schritt haltend mit der inneren Abklärung des Schö¬
pfers der Wissenschaft und seiner immer zunehmenden Herrschaft über das unerme߬
liche Gebiet seines Stoffes, endlich in der Sprachgeschichte auf die erfreulichste
Weise überwunden erscheint. --

Ich lasse die anderen in ihrer Art nicht minder bahnbrechenden Arbeiten Ja¬
cob Grimm's ganz außer Spiel, seine deutsche Mythologie in ihren beiden nur
durch wenige Jahre getrennten Auflagen, seine Rechtsalterthümer sammt den dazu
gehörigen Stoffsammlungen, den deutscheu Weisthümern; die unzähligen kleineren
aber in beschränktem Felde ebenfalls lichtbringenden Abhandlungen, Ausgaben und
Sammlungen sind eine so bedeutende Reihe, daß man kaum begreift, wie ein
Menschenleben zu ihrer bloßen äußeren Abfassung hingereicht hat.

Ueberblicke man den Inhalt des Buchs, so läßt er sich ungefähr so zusam¬
menfassen: Die gegenwärtig gesprochene deutsche Sprache sammt ihren Nebenzwei¬
gen im Norden und Nordwesten Europas liegt uns in unmittelbarer Ueberlieferung
von ausführlicheren oder kürzeren Sprachdenkmälern (oft nur einzelne Worte und
Namen) in einer Geschichte von achtzehn Jahrhunderten vor. Da, wo diese Sprach-


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wirklichen oder geborenen Schulmeistern und umnebelt bekanntlich bis heutigen
Tags die Köpfe dieser guten Leute noch so sehr, daß sie allem in Masse keine
Ahnung von dem Tag habe», der unterdessen aufgegangen ist.

Es war somit kein Muster vorhanden, an welches sich der Versuch einer
deutschn: Grammatik anlehnen konnte. Alle Wege mußten erst selbst gefunden
und selbst gebahnt werden. Bedenkt man nun, daß der Stoss zu der Arbeit aus
der umfangreichsten Literatur der Welt vou allen Ecken und Enden her zusam¬
mengeholt werden mußte, aus einer Literatur, die in ihrem tausendjährigen Be¬
stände von einer ebenfalls nirgends auf ähnliche Weise vorkommenden Veränderung,
Umschmelzung, Erneuerung, Vcrsiegung und Wiederbelebung des ganzen Sprach¬
zustandes Zeugniß ablegte, so kann es nur Wunder nehmen, wie es einem mensch¬
lichen Fleiß und menschlicher Geisteskraft möglich geworden ist, sich durch alle
diese Gebirge vou Stoff hindurch zu arbeiten und mit einer verhältnißmäßig so
reinlich durchgeführten Kritik das wirklich wissenschaftlich Bedeutungsvolle so zu
sondern und zu organisiren, wie es Jacob Grimm auf den ersten Wurf eben in
jeuer löschpapiernen ersten Ausgabe deö ersten Theils seiner Grammatik gelungen
ist. — Daß an sehr vielen Stellen der Stoff nicht gebändigt und verarbeitet wer¬
den konnte, daß manche zum ersten Mal gefundene Principien nur mehr geahnt,
als wirklich klar ausgesprochen waren, daß überhaupt die ganze Arbeit mehr wie
ein! Concept, als wie ein fertiges Buch aussah, entschuldigt sich leicht aus den
erwähnten Vorbedingungen, aber entschuldigt es auch einigermaßen, daß Anfangs
ihre Früchte mir auf einen kleineren Kreis von wirklich Mitstrebenden beschränkt
blieben. Jeder der folgenden drei Bände und der verschiedenen Auflagen des
ersten näherte sich immer mehr einer menschlich-lesbaren Form von Innen und
Außen, bis dieser Prozeß, Schritt haltend mit der inneren Abklärung des Schö¬
pfers der Wissenschaft und seiner immer zunehmenden Herrschaft über das unerme߬
liche Gebiet seines Stoffes, endlich in der Sprachgeschichte auf die erfreulichste
Weise überwunden erscheint. —

Ich lasse die anderen in ihrer Art nicht minder bahnbrechenden Arbeiten Ja¬
cob Grimm's ganz außer Spiel, seine deutsche Mythologie in ihren beiden nur
durch wenige Jahre getrennten Auflagen, seine Rechtsalterthümer sammt den dazu
gehörigen Stoffsammlungen, den deutscheu Weisthümern; die unzähligen kleineren
aber in beschränktem Felde ebenfalls lichtbringenden Abhandlungen, Ausgaben und
Sammlungen sind eine so bedeutende Reihe, daß man kaum begreift, wie ein
Menschenleben zu ihrer bloßen äußeren Abfassung hingereicht hat.

Ueberblicke man den Inhalt des Buchs, so läßt er sich ungefähr so zusam¬
menfassen: Die gegenwärtig gesprochene deutsche Sprache sammt ihren Nebenzwei¬
gen im Norden und Nordwesten Europas liegt uns in unmittelbarer Ueberlieferung
von ausführlicheren oder kürzeren Sprachdenkmälern (oft nur einzelne Worte und
Namen) in einer Geschichte von achtzehn Jahrhunderten vor. Da, wo diese Sprach-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/59>, abgerufen am 02.10.2024.