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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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für sich thun, sie suchen auch andere, deren Bildung ihnen anheimgegeben ist, so
zu verballhornen, daß auch sie schwarz für weiß und ein X für ein U ansehen.
Von den großen astronomischen Entdeckungen des sechzehnten Jahrhunderts an bis
zu deu nicht minder genialen, wenn auch bescheidener auftretenden über das Laut-
system unserer Sprache ist es immer so gewesen und wird auch immer so bleiben.

Uebrigens ist nicht zu verkennen, daß "die Geschichte der deutschen Sprache"
in dieser Beziehung einen höchst bemerkenswerthen Wendepunkt bezeichnet. Es
liegt in der Gegenwart ein gewisser Naturtrieb zur Beschäftigung mit der Ge¬
schichte und den ihr verwandten Fächern, der aus denselben Wurzeln eines wohl¬
berechtigten und leider allzulange verborgenen Realismus hervorgeht, aus denen
auch die Vorliebe für Naturwissenschaften und ihre detaillirte Behandlung entspringt.
Für die größere Masse der Bildungsbedürftigen muß aber die Geschichte wegen
ihres menschlichen Gehaltes immer ein großes Uebergewicht vor jenen behaupten;
im Augenblick und für eine geraume Zeit hinaus, wo wir in der Umformung un¬
serer politischen und socialen Zustände begriffen sind, kommen noch eben daraus
hervorgehende praktische Gründe hinzu, um dies Interesse zu verstärken. Natur¬
gemäß ist es die Geschichte des eigenen Volkes, die die stärkste Anziehungskraft
ausübt.

Nach den praktischen Bedürfnissen der Gegenwart ist es freilich unendlich
überwiegend die Geschichte der nächsten Vergangenheit und zwar wieder nur der
politischen und socialen Momente derselben, welche eine solche Anziehungskraft übt.
Ein Beweis dafür ist, daß von der "Geschichte der deutschen Sprache," trotz der
von Autoren und Verlegern so oft bejammerten bösen Zeiten und ihres in Deutsch¬
land unverhältnißmäßig > hohen Preises eine ganze starke Auflage bereits vergriffen
ist, so daß schon vor einigen Monaten eine zweite Ausgabe nöthig wurde.

Auch der ganzen Haltung des Werkes sieht man es deutlich an, daß der
Versasser nicht blos auf einige Dutzend ebeu so gelehrte "Mitstrebende" rechnet,
wie etwa jene, welchen die verschiedenen Bände der deutschen Grammatik gewidmet
sind, sondern auf einen ziemlich weiten Kreis von Gebildeten, freilich nicht in
dem Sinn unserer bekannten populären Verpfuschuugen gediegener wissenschaftlicher
Leistungen. Auch ist diese veränderte Haltung nicht etwa absichtlich gekommen,
in Folge bewußter Reflexion, sondern ganz unwillkürlich und auch, wie ich ganz
fest davon überzeugt bin, ohne daß der Verfasser sich des großen Unterschiedes,
der zwischen diesem letzten Werke und allen seinen früheren vorhanden ist, während
der Arbeit bewußt geworden wäre. An einer Stelle in der Vorrede scheint ihm
nur eine entfernte Ahnung davon aufgestiegen zu sein. Dort behauptet er nämlich,
sein Buch sei durch und durch politisch. In die gewöhnliche Sprache übersetzt,
"heißt das ungefähr so viel als: Ihr werdet die großen Strömungen des geistigen
Lebens der unmittelbaren Gegenwart auch hier wiederfinden, freilich nicht etwa


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für sich thun, sie suchen auch andere, deren Bildung ihnen anheimgegeben ist, so
zu verballhornen, daß auch sie schwarz für weiß und ein X für ein U ansehen.
Von den großen astronomischen Entdeckungen des sechzehnten Jahrhunderts an bis
zu deu nicht minder genialen, wenn auch bescheidener auftretenden über das Laut-
system unserer Sprache ist es immer so gewesen und wird auch immer so bleiben.

Uebrigens ist nicht zu verkennen, daß „die Geschichte der deutschen Sprache"
in dieser Beziehung einen höchst bemerkenswerthen Wendepunkt bezeichnet. Es
liegt in der Gegenwart ein gewisser Naturtrieb zur Beschäftigung mit der Ge¬
schichte und den ihr verwandten Fächern, der aus denselben Wurzeln eines wohl¬
berechtigten und leider allzulange verborgenen Realismus hervorgeht, aus denen
auch die Vorliebe für Naturwissenschaften und ihre detaillirte Behandlung entspringt.
Für die größere Masse der Bildungsbedürftigen muß aber die Geschichte wegen
ihres menschlichen Gehaltes immer ein großes Uebergewicht vor jenen behaupten;
im Augenblick und für eine geraume Zeit hinaus, wo wir in der Umformung un¬
serer politischen und socialen Zustände begriffen sind, kommen noch eben daraus
hervorgehende praktische Gründe hinzu, um dies Interesse zu verstärken. Natur¬
gemäß ist es die Geschichte des eigenen Volkes, die die stärkste Anziehungskraft
ausübt.

Nach den praktischen Bedürfnissen der Gegenwart ist es freilich unendlich
überwiegend die Geschichte der nächsten Vergangenheit und zwar wieder nur der
politischen und socialen Momente derselben, welche eine solche Anziehungskraft übt.
Ein Beweis dafür ist, daß von der „Geschichte der deutschen Sprache," trotz der
von Autoren und Verlegern so oft bejammerten bösen Zeiten und ihres in Deutsch¬
land unverhältnißmäßig > hohen Preises eine ganze starke Auflage bereits vergriffen
ist, so daß schon vor einigen Monaten eine zweite Ausgabe nöthig wurde.

Auch der ganzen Haltung des Werkes sieht man es deutlich an, daß der
Versasser nicht blos auf einige Dutzend ebeu so gelehrte „Mitstrebende" rechnet,
wie etwa jene, welchen die verschiedenen Bände der deutschen Grammatik gewidmet
sind, sondern auf einen ziemlich weiten Kreis von Gebildeten, freilich nicht in
dem Sinn unserer bekannten populären Verpfuschuugen gediegener wissenschaftlicher
Leistungen. Auch ist diese veränderte Haltung nicht etwa absichtlich gekommen,
in Folge bewußter Reflexion, sondern ganz unwillkürlich und auch, wie ich ganz
fest davon überzeugt bin, ohne daß der Verfasser sich des großen Unterschiedes,
der zwischen diesem letzten Werke und allen seinen früheren vorhanden ist, während
der Arbeit bewußt geworden wäre. An einer Stelle in der Vorrede scheint ihm
nur eine entfernte Ahnung davon aufgestiegen zu sein. Dort behauptet er nämlich,
sein Buch sei durch und durch politisch. In die gewöhnliche Sprache übersetzt,
"heißt das ungefähr so viel als: Ihr werdet die großen Strömungen des geistigen
Lebens der unmittelbaren Gegenwart auch hier wiederfinden, freilich nicht etwa


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[0057] für sich thun, sie suchen auch andere, deren Bildung ihnen anheimgegeben ist, so zu verballhornen, daß auch sie schwarz für weiß und ein X für ein U ansehen. Von den großen astronomischen Entdeckungen des sechzehnten Jahrhunderts an bis zu deu nicht minder genialen, wenn auch bescheidener auftretenden über das Laut- system unserer Sprache ist es immer so gewesen und wird auch immer so bleiben. Uebrigens ist nicht zu verkennen, daß „die Geschichte der deutschen Sprache" in dieser Beziehung einen höchst bemerkenswerthen Wendepunkt bezeichnet. Es liegt in der Gegenwart ein gewisser Naturtrieb zur Beschäftigung mit der Ge¬ schichte und den ihr verwandten Fächern, der aus denselben Wurzeln eines wohl¬ berechtigten und leider allzulange verborgenen Realismus hervorgeht, aus denen auch die Vorliebe für Naturwissenschaften und ihre detaillirte Behandlung entspringt. Für die größere Masse der Bildungsbedürftigen muß aber die Geschichte wegen ihres menschlichen Gehaltes immer ein großes Uebergewicht vor jenen behaupten; im Augenblick und für eine geraume Zeit hinaus, wo wir in der Umformung un¬ serer politischen und socialen Zustände begriffen sind, kommen noch eben daraus hervorgehende praktische Gründe hinzu, um dies Interesse zu verstärken. Natur¬ gemäß ist es die Geschichte des eigenen Volkes, die die stärkste Anziehungskraft ausübt. Nach den praktischen Bedürfnissen der Gegenwart ist es freilich unendlich überwiegend die Geschichte der nächsten Vergangenheit und zwar wieder nur der politischen und socialen Momente derselben, welche eine solche Anziehungskraft übt. Ein Beweis dafür ist, daß von der „Geschichte der deutschen Sprache," trotz der von Autoren und Verlegern so oft bejammerten bösen Zeiten und ihres in Deutsch¬ land unverhältnißmäßig > hohen Preises eine ganze starke Auflage bereits vergriffen ist, so daß schon vor einigen Monaten eine zweite Ausgabe nöthig wurde. Auch der ganzen Haltung des Werkes sieht man es deutlich an, daß der Versasser nicht blos auf einige Dutzend ebeu so gelehrte „Mitstrebende" rechnet, wie etwa jene, welchen die verschiedenen Bände der deutschen Grammatik gewidmet sind, sondern auf einen ziemlich weiten Kreis von Gebildeten, freilich nicht in dem Sinn unserer bekannten populären Verpfuschuugen gediegener wissenschaftlicher Leistungen. Auch ist diese veränderte Haltung nicht etwa absichtlich gekommen, in Folge bewußter Reflexion, sondern ganz unwillkürlich und auch, wie ich ganz fest davon überzeugt bin, ohne daß der Verfasser sich des großen Unterschiedes, der zwischen diesem letzten Werke und allen seinen früheren vorhanden ist, während der Arbeit bewußt geworden wäre. An einer Stelle in der Vorrede scheint ihm nur eine entfernte Ahnung davon aufgestiegen zu sein. Dort behauptet er nämlich, sein Buch sei durch und durch politisch. In die gewöhnliche Sprache übersetzt, "heißt das ungefähr so viel als: Ihr werdet die großen Strömungen des geistigen Lebens der unmittelbaren Gegenwart auch hier wiederfinden, freilich nicht etwa GrmMen. l. i8so. 7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/57>, abgerufen am 29.06.2024.