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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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zum Schöpfer erhebe, und einige Fragmente von Gebeten stammte, die unsre Mut-
ter uns in der Kindheit lehrte u. s. w.

"Nachdem ich dies gethan -- und muß man damit nicht Alles anfangen und
beschließen? -- setze ich mich an den alten Eichentisch, an dem mein Vater und
Großvater gesessen. -- (Dieser wird beschrieben.) -- In Mitte- vieler bestäubter
Bände liegt schönes weißes Papier, Bleistifte und Federn. Den Ellbogen auf
den Tisch gestützt und den Kopf auf die Hand (die Lieblingsstellung des Dichters,
wie wir später bei der Revolutionsgeschichte sehn werden), das Herz angeschwollen
von Gefühlen und Erinnerungen, deu Gedanken voll von unbestimmten Bildern,
die Sinne in Ruhe oder in gelinde Melancholie gewiegt durch das Gemurmel des
Waldes, welches sich an meinen Fenstern bricht, lasse ich mich in meinen Träu¬
men gehen, empfinde Alles, denke an Alles, spiele mit meinem Bleistift -- die
Bewegung des Gedankens macht Halt, die Empfindungen und Bilder häufen sich
zusammen, sie suchen eine Gestalt,' und ich sage zu mir selber: Ich will schreiben.
Die besten dieser Gedichte zerreiße ich wieder, denn das Auge oder das Ohr
der Menschen würde sie entweihen, tuo "^u' it ^ do mvilleiir ains iwti-o coeur
N'"ZU 80l't ^.lMiÜS." --

Ich knüpfe an diese coquette Schilderung zwei Bemerkungen. Wenn man
sich diele poetische Empstudungsweise als constante Morgenbeschäftignug denkt,
so möchte sie doch ebenso demoralisirend auf die Wahrheit und Gesundheit der
Empfindung einwirken, als der Piettsmns. Ich würde es eher begreifen, wenn
Lamartine Cigarren rauchte; ich wage es aber kaum zu hoffen. -- Sodann ist die¬
ses blos receptive Verhalten gegen die poetischen Stoffe verderblich für die Kunst.
Auch das lyrische Gedicht, obgleich es am meisten Stimmung verlangt, verlangt
doch die ordnende Hand des denkenden Künstlers, um diese Stimmung wiederzu¬
geben. Der unrhythmische Fluß der Empfindungen, die geschmacklose Gruppirung
der Farben und Gestalten, das Verschwimmen in inhaltlosen Gefühlen, die keine
Berechtigung haben, weil sie ohne Tiefe sind, wird uns bei dieser Entstehungs-
weise deutlich. -- Ich gehe nun auf das Einzelne über.

In deu Mtiditativns ist das hervorstechendste Gedicht eine Ode an Lord
Byron. "Du, dessen wahren Namen die Welt noch nicht kennt, geheimnißvoller
Geist, Sterblicher, Engel oder Dämon. Die Nacht ist dein Aufenthalt, der
Schrecken dein Gebiet. Der Schrei der Verzweiflung ist deine liebste Musik. Das
Böse ist dein Schauspiel, der Mensch dein Opfer. Dein Auge hat, gleich Satan,
den Abgrund ermessen, und dein Geist sich tief hineintauchend fern von dem Ta¬
geslicht und von Gott, hat von der Hoffnung ans ewig Abschied genommen, --
Deine Stimme singt in einer höllischen Melodie dem finstern Gott des Bösen
Siegeshymnen. -- Auch Ich! ich habe vergebens das Wort gesucht, welches das
Räthsel des Lebens löst; die Welt ist für den menschlichen Stolz ein verschlosse¬
nes Buch.


zum Schöpfer erhebe, und einige Fragmente von Gebeten stammte, die unsre Mut-
ter uns in der Kindheit lehrte u. s. w.

„Nachdem ich dies gethan — und muß man damit nicht Alles anfangen und
beschließen? — setze ich mich an den alten Eichentisch, an dem mein Vater und
Großvater gesessen. -- (Dieser wird beschrieben.) — In Mitte- vieler bestäubter
Bände liegt schönes weißes Papier, Bleistifte und Federn. Den Ellbogen auf
den Tisch gestützt und den Kopf auf die Hand (die Lieblingsstellung des Dichters,
wie wir später bei der Revolutionsgeschichte sehn werden), das Herz angeschwollen
von Gefühlen und Erinnerungen, deu Gedanken voll von unbestimmten Bildern,
die Sinne in Ruhe oder in gelinde Melancholie gewiegt durch das Gemurmel des
Waldes, welches sich an meinen Fenstern bricht, lasse ich mich in meinen Träu¬
men gehen, empfinde Alles, denke an Alles, spiele mit meinem Bleistift — die
Bewegung des Gedankens macht Halt, die Empfindungen und Bilder häufen sich
zusammen, sie suchen eine Gestalt,' und ich sage zu mir selber: Ich will schreiben.
Die besten dieser Gedichte zerreiße ich wieder, denn das Auge oder das Ohr
der Menschen würde sie entweihen, tuo «^u' it ^ do mvilleiir ains iwti-o coeur
N'«ZU 80l't ^.lMiÜS." —

Ich knüpfe an diese coquette Schilderung zwei Bemerkungen. Wenn man
sich diele poetische Empstudungsweise als constante Morgenbeschäftignug denkt,
so möchte sie doch ebenso demoralisirend auf die Wahrheit und Gesundheit der
Empfindung einwirken, als der Piettsmns. Ich würde es eher begreifen, wenn
Lamartine Cigarren rauchte; ich wage es aber kaum zu hoffen. — Sodann ist die¬
ses blos receptive Verhalten gegen die poetischen Stoffe verderblich für die Kunst.
Auch das lyrische Gedicht, obgleich es am meisten Stimmung verlangt, verlangt
doch die ordnende Hand des denkenden Künstlers, um diese Stimmung wiederzu¬
geben. Der unrhythmische Fluß der Empfindungen, die geschmacklose Gruppirung
der Farben und Gestalten, das Verschwimmen in inhaltlosen Gefühlen, die keine
Berechtigung haben, weil sie ohne Tiefe sind, wird uns bei dieser Entstehungs-
weise deutlich. — Ich gehe nun auf das Einzelne über.

In deu Mtiditativns ist das hervorstechendste Gedicht eine Ode an Lord
Byron. „Du, dessen wahren Namen die Welt noch nicht kennt, geheimnißvoller
Geist, Sterblicher, Engel oder Dämon. Die Nacht ist dein Aufenthalt, der
Schrecken dein Gebiet. Der Schrei der Verzweiflung ist deine liebste Musik. Das
Böse ist dein Schauspiel, der Mensch dein Opfer. Dein Auge hat, gleich Satan,
den Abgrund ermessen, und dein Geist sich tief hineintauchend fern von dem Ta¬
geslicht und von Gott, hat von der Hoffnung ans ewig Abschied genommen, —
Deine Stimme singt in einer höllischen Melodie dem finstern Gott des Bösen
Siegeshymnen. — Auch Ich! ich habe vergebens das Wort gesucht, welches das
Räthsel des Lebens löst; die Welt ist für den menschlichen Stolz ein verschlosse¬
nes Buch.


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[0493] zum Schöpfer erhebe, und einige Fragmente von Gebeten stammte, die unsre Mut- ter uns in der Kindheit lehrte u. s. w. „Nachdem ich dies gethan — und muß man damit nicht Alles anfangen und beschließen? — setze ich mich an den alten Eichentisch, an dem mein Vater und Großvater gesessen. -- (Dieser wird beschrieben.) — In Mitte- vieler bestäubter Bände liegt schönes weißes Papier, Bleistifte und Federn. Den Ellbogen auf den Tisch gestützt und den Kopf auf die Hand (die Lieblingsstellung des Dichters, wie wir später bei der Revolutionsgeschichte sehn werden), das Herz angeschwollen von Gefühlen und Erinnerungen, deu Gedanken voll von unbestimmten Bildern, die Sinne in Ruhe oder in gelinde Melancholie gewiegt durch das Gemurmel des Waldes, welches sich an meinen Fenstern bricht, lasse ich mich in meinen Träu¬ men gehen, empfinde Alles, denke an Alles, spiele mit meinem Bleistift — die Bewegung des Gedankens macht Halt, die Empfindungen und Bilder häufen sich zusammen, sie suchen eine Gestalt,' und ich sage zu mir selber: Ich will schreiben. Die besten dieser Gedichte zerreiße ich wieder, denn das Auge oder das Ohr der Menschen würde sie entweihen, tuo «^u' it ^ do mvilleiir ains iwti-o coeur N'«ZU 80l't ^.lMiÜS." — Ich knüpfe an diese coquette Schilderung zwei Bemerkungen. Wenn man sich diele poetische Empstudungsweise als constante Morgenbeschäftignug denkt, so möchte sie doch ebenso demoralisirend auf die Wahrheit und Gesundheit der Empfindung einwirken, als der Piettsmns. Ich würde es eher begreifen, wenn Lamartine Cigarren rauchte; ich wage es aber kaum zu hoffen. — Sodann ist die¬ ses blos receptive Verhalten gegen die poetischen Stoffe verderblich für die Kunst. Auch das lyrische Gedicht, obgleich es am meisten Stimmung verlangt, verlangt doch die ordnende Hand des denkenden Künstlers, um diese Stimmung wiederzu¬ geben. Der unrhythmische Fluß der Empfindungen, die geschmacklose Gruppirung der Farben und Gestalten, das Verschwimmen in inhaltlosen Gefühlen, die keine Berechtigung haben, weil sie ohne Tiefe sind, wird uns bei dieser Entstehungs- weise deutlich. — Ich gehe nun auf das Einzelne über. In deu Mtiditativns ist das hervorstechendste Gedicht eine Ode an Lord Byron. „Du, dessen wahren Namen die Welt noch nicht kennt, geheimnißvoller Geist, Sterblicher, Engel oder Dämon. Die Nacht ist dein Aufenthalt, der Schrecken dein Gebiet. Der Schrei der Verzweiflung ist deine liebste Musik. Das Böse ist dein Schauspiel, der Mensch dein Opfer. Dein Auge hat, gleich Satan, den Abgrund ermessen, und dein Geist sich tief hineintauchend fern von dem Ta¬ geslicht und von Gott, hat von der Hoffnung ans ewig Abschied genommen, — Deine Stimme singt in einer höllischen Melodie dem finstern Gott des Bösen Siegeshymnen. — Auch Ich! ich habe vergebens das Wort gesucht, welches das Räthsel des Lebens löst; die Welt ist für den menschlichen Stolz ein verschlosse¬ nes Buch.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/493>, abgerufen am 23.06.2024.