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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Christenthum, dem man es jeden Augenblick ansieht, daß es nicht der Ausdruck
einer tiefen innern Ueberzeugung ist, daß es lediglich aus einer rafftnirten Ca¬
price entspringt, etwas höchst Widerliches. Wir Deutschen haben in unsern Kirchen¬
liedern aus dem 17. Jahrhundert, sosehr sie dem Standpunkt unserer Bildung und
dem Ideal unserer Empfindungsweise widersprechen, einen Schatz von echter Poe¬
sie, der zehnfach all die schönen Worte aufwiegt, welche das moderne Christen¬
thum dem lieben Gott, der heiligen Jungfrau und den übrigen Personen des
offiziellen Cultus gesagt hat. Denn jene schlichten, rohen Gesänge waren die
realen Seufzer eiuer gepreßten Brust, die qualvolle Anstrengung des Glaubens,
das widerspenstige Herz zu überwinden, und diese subjective Wahrheit ist poetisch,
auch wo sie rast; diese unheilige Cvguetterie dagegen ist für den Theetisch berech¬
net, und ist kraftlos, unwahr, siech, wie die restaurirte Religion überhaupt.

Auch über den formalen Werth jener Poesien müssen wir Deutschen anders
urtheilen als unsere überrheiuiscken Nachbarn. Es ist allerdings nicht jene Kälte
des Herzens, die uns bei Victor Hugo befremdet hat, die sich in ein bloßes
Raffinement der Form verliert, es ist eine sentimentale Geschwätzigkeit, eine Ge¬
wohnheit der Thränen und Seufzer, die aller Jntensivität entbehrt; ein geläufiges
Aneinanderreihen von Bildern und Empfindungen, die weder eine Melodie noch
eine Größe des Gedankens erlauben. Von dem deutschen Liede, wie es Kothe
geschaffen, wie er es eigentlich unserm alte" Volkslied abgelernt, hat der Fran¬
zose keinen Begriff; er hat nie die Ruhe, ein einfaches Bild, eine reine Stim¬
mung festzuhalten. Aber er hat auch keinen Begriff von jener kühnen Poesie, die
mit der Dialektik des Gedankens den stolze" Wettstreit unternimmt, die in die
Sprache der Empfindung übersetzt, was in der Philosophie nur dem Scheine nach
eine nüchterne Aufeinanderfolge von Schlüssen, in der That aber ein entschlossener
Griff, des Geistes ist in das widerspruchsvolle Gewebe der Natur. Spinoza's
mathematisch-scholastische Syllogismen würden sich von einem poetischen Geist in ein
echtes Gedicht übersetzen lassen. Schiller's sogenannte didactische Gedichte werden
darum all die Ephemere" unserer neuen Reflexion überleben, weil sie in höherm
Sinn philosophisch sind, weil sie i" der Freiheit das Gesetz verehre". Lamartine
wie unsere Anastasius Grün reflectirt schlecht und recht, was ihm gerade einfällt;
seine Reflexionen haben keinen Anfang und kein Ende, und so ermüdend schon in
ihrer gegenwärtigen Länge die eintönige Geschwätzigkeit ist, mit der der Dichter
mit seinen Einfällen spielt, so ist nie ein Grund abzusehn, warum sich dieses
Spiel uicht uoch viel weiter ausdehnen sollte.

Sehr lehrreich ist die Schilderung, welche Lamartine in der Vorrede zu sei¬
nen lKecnviII<ziii<zutL (1838) von der Art und Weise seines Producirens gibt. -- --
Sein Dichten fällt gewöhnlich in den Herbst. -- "Kaum hat es fünf geschlagen
auf der langsamen und heiser" Uhr des Thurmes, der meine" Garten be¬
herrscht, so verlasse ich mein Bett, ermüdet von Träumen, zünde "leine


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Christenthum, dem man es jeden Augenblick ansieht, daß es nicht der Ausdruck
einer tiefen innern Ueberzeugung ist, daß es lediglich aus einer rafftnirten Ca¬
price entspringt, etwas höchst Widerliches. Wir Deutschen haben in unsern Kirchen¬
liedern aus dem 17. Jahrhundert, sosehr sie dem Standpunkt unserer Bildung und
dem Ideal unserer Empfindungsweise widersprechen, einen Schatz von echter Poe¬
sie, der zehnfach all die schönen Worte aufwiegt, welche das moderne Christen¬
thum dem lieben Gott, der heiligen Jungfrau und den übrigen Personen des
offiziellen Cultus gesagt hat. Denn jene schlichten, rohen Gesänge waren die
realen Seufzer eiuer gepreßten Brust, die qualvolle Anstrengung des Glaubens,
das widerspenstige Herz zu überwinden, und diese subjective Wahrheit ist poetisch,
auch wo sie rast; diese unheilige Cvguetterie dagegen ist für den Theetisch berech¬
net, und ist kraftlos, unwahr, siech, wie die restaurirte Religion überhaupt.

Auch über den formalen Werth jener Poesien müssen wir Deutschen anders
urtheilen als unsere überrheiuiscken Nachbarn. Es ist allerdings nicht jene Kälte
des Herzens, die uns bei Victor Hugo befremdet hat, die sich in ein bloßes
Raffinement der Form verliert, es ist eine sentimentale Geschwätzigkeit, eine Ge¬
wohnheit der Thränen und Seufzer, die aller Jntensivität entbehrt; ein geläufiges
Aneinanderreihen von Bildern und Empfindungen, die weder eine Melodie noch
eine Größe des Gedankens erlauben. Von dem deutschen Liede, wie es Kothe
geschaffen, wie er es eigentlich unserm alte» Volkslied abgelernt, hat der Fran¬
zose keinen Begriff; er hat nie die Ruhe, ein einfaches Bild, eine reine Stim¬
mung festzuhalten. Aber er hat auch keinen Begriff von jener kühnen Poesie, die
mit der Dialektik des Gedankens den stolze» Wettstreit unternimmt, die in die
Sprache der Empfindung übersetzt, was in der Philosophie nur dem Scheine nach
eine nüchterne Aufeinanderfolge von Schlüssen, in der That aber ein entschlossener
Griff, des Geistes ist in das widerspruchsvolle Gewebe der Natur. Spinoza's
mathematisch-scholastische Syllogismen würden sich von einem poetischen Geist in ein
echtes Gedicht übersetzen lassen. Schiller's sogenannte didactische Gedichte werden
darum all die Ephemere» unserer neuen Reflexion überleben, weil sie in höherm
Sinn philosophisch sind, weil sie i» der Freiheit das Gesetz verehre». Lamartine
wie unsere Anastasius Grün reflectirt schlecht und recht, was ihm gerade einfällt;
seine Reflexionen haben keinen Anfang und kein Ende, und so ermüdend schon in
ihrer gegenwärtigen Länge die eintönige Geschwätzigkeit ist, mit der der Dichter
mit seinen Einfällen spielt, so ist nie ein Grund abzusehn, warum sich dieses
Spiel uicht uoch viel weiter ausdehnen sollte.

Sehr lehrreich ist die Schilderung, welche Lamartine in der Vorrede zu sei¬
nen lKecnviII<ziii<zutL (1838) von der Art und Weise seines Producirens gibt. — —
Sein Dichten fällt gewöhnlich in den Herbst. — „Kaum hat es fünf geschlagen
auf der langsamen und heiser» Uhr des Thurmes, der meine» Garten be¬
herrscht, so verlasse ich mein Bett, ermüdet von Träumen, zünde »leine


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[0491] Christenthum, dem man es jeden Augenblick ansieht, daß es nicht der Ausdruck einer tiefen innern Ueberzeugung ist, daß es lediglich aus einer rafftnirten Ca¬ price entspringt, etwas höchst Widerliches. Wir Deutschen haben in unsern Kirchen¬ liedern aus dem 17. Jahrhundert, sosehr sie dem Standpunkt unserer Bildung und dem Ideal unserer Empfindungsweise widersprechen, einen Schatz von echter Poe¬ sie, der zehnfach all die schönen Worte aufwiegt, welche das moderne Christen¬ thum dem lieben Gott, der heiligen Jungfrau und den übrigen Personen des offiziellen Cultus gesagt hat. Denn jene schlichten, rohen Gesänge waren die realen Seufzer eiuer gepreßten Brust, die qualvolle Anstrengung des Glaubens, das widerspenstige Herz zu überwinden, und diese subjective Wahrheit ist poetisch, auch wo sie rast; diese unheilige Cvguetterie dagegen ist für den Theetisch berech¬ net, und ist kraftlos, unwahr, siech, wie die restaurirte Religion überhaupt. Auch über den formalen Werth jener Poesien müssen wir Deutschen anders urtheilen als unsere überrheiuiscken Nachbarn. Es ist allerdings nicht jene Kälte des Herzens, die uns bei Victor Hugo befremdet hat, die sich in ein bloßes Raffinement der Form verliert, es ist eine sentimentale Geschwätzigkeit, eine Ge¬ wohnheit der Thränen und Seufzer, die aller Jntensivität entbehrt; ein geläufiges Aneinanderreihen von Bildern und Empfindungen, die weder eine Melodie noch eine Größe des Gedankens erlauben. Von dem deutschen Liede, wie es Kothe geschaffen, wie er es eigentlich unserm alte» Volkslied abgelernt, hat der Fran¬ zose keinen Begriff; er hat nie die Ruhe, ein einfaches Bild, eine reine Stim¬ mung festzuhalten. Aber er hat auch keinen Begriff von jener kühnen Poesie, die mit der Dialektik des Gedankens den stolze» Wettstreit unternimmt, die in die Sprache der Empfindung übersetzt, was in der Philosophie nur dem Scheine nach eine nüchterne Aufeinanderfolge von Schlüssen, in der That aber ein entschlossener Griff, des Geistes ist in das widerspruchsvolle Gewebe der Natur. Spinoza's mathematisch-scholastische Syllogismen würden sich von einem poetischen Geist in ein echtes Gedicht übersetzen lassen. Schiller's sogenannte didactische Gedichte werden darum all die Ephemere» unserer neuen Reflexion überleben, weil sie in höherm Sinn philosophisch sind, weil sie i» der Freiheit das Gesetz verehre». Lamartine wie unsere Anastasius Grün reflectirt schlecht und recht, was ihm gerade einfällt; seine Reflexionen haben keinen Anfang und kein Ende, und so ermüdend schon in ihrer gegenwärtigen Länge die eintönige Geschwätzigkeit ist, mit der der Dichter mit seinen Einfällen spielt, so ist nie ein Grund abzusehn, warum sich dieses Spiel uicht uoch viel weiter ausdehnen sollte. Sehr lehrreich ist die Schilderung, welche Lamartine in der Vorrede zu sei¬ nen lKecnviII<ziii<zutL (1838) von der Art und Weise seines Producirens gibt. — — Sein Dichten fällt gewöhnlich in den Herbst. — „Kaum hat es fünf geschlagen auf der langsamen und heiser» Uhr des Thurmes, der meine» Garten be¬ herrscht, so verlasse ich mein Bett, ermüdet von Träumen, zünde »leine 61'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/491>, abgerufen am 23.06.2024.