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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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wahrt, hin und wieder eine Seite aufgeschlagen und sie mit heiligen Thränen der
Pietät benetzt habe. Im Sommer trieb der Knabe mit den andern Dorfkindern
die Schafe und Ziegen ans die Weide, und briet am Ufer eines Bachs geplün¬
derte Kartoffeln und Maronen. Indem er diese allerliebsten Idyllen erzählt, kann
er nicht unterlassen, in Beziehung auf den Bach folgende charakteristische Bemer-
kung zu machen. "Das Wasser ist das Element der Trauer. 8um"r llumin-r IZ-t-
Kz'louis 8<ztlimu8 et llovimus. Warum? Weil das Wasser mit der ganzen Welt
weint. So klein wir waren, wir wurden von dem Rauschen des Baches gerührt!"
Das ist wohl mehr "Dichtung" als Wahrheit, aber es ist schon ganz der antici-
pirte Lamartine der Revolution, der mitten im Feuer der Barrikaden sich selber
in Thränen spricht, um dem Publikum durch Gefühl zu imponiren, wenn dieses
Gefühl auch uicht im mindesten zur Sache gehört.

"Ich war damals, erzählt Lamartine, eins der schönsten Kinder, das jemals
mit seinen nackten Füßen den Steinboden unserer Berge betreten hat, in einem
Lande, wo doch die Race so gesund und so schön ist. Dunkelblaue Angen, wie
die meiner Mutter, reine und fast römische Formen, gemildert durch einen etwas
nachdenklichen Ausdruck; das Gesicht von einem blendenden Strahl innerer Freu¬
digkeit verklärt; sehr feine und geschmeidige kastanienbraune Haare mit Goldglanz,
die in reichen Locken auf meinen gebräunten Hals herabwogten; hoher Wuchs;
behende, gelenke und graciöse Bewegungen; eine fast zu große Zartheit des Haut¬
gewebes, durch welche die Gewalt der Herzensbewegnngen in Nöthe und Blässe
sich Bahn brach, kurz, das Conterfei meiner Mutter (die er eben als das voll¬
kommenste Ideal menschlicher Schönheit dargestellt hat). Glückliche Formen, ein
glückliches Herz, ein glücklicher Charakter -- ich hatte der Natur nichts
vorzuwerfen." Der Junge muß beständig einen Handspiegel in der Tasche mit
sich herumgeführt haben.

Dieser physischen Vollkommenheit entsprach die moralische. "Meine Mutter
verlangte nichts weiter von mir, als gut und wahr zu sein. Das machte mir
keine Mühe. Meine Seele, die nur Güte athmete, konnte nichts anders hervor¬
bringen. Ich hatte nie zu kämpfen, weder mit mir, noch mit sonst wem." Ein
sehr bedenklicher Umstand sür die Entwickelung eines Charakters! -- Der erste
Unterricht wurde ihm spielend beigebracht; den Ernst der Schule sollte er sowenig
kennen lernen, als den Ernst des Lebens. Seine Lectüre waren Empfinduugs-
schriften: außer einer "gereinigten" Bibel die Werke der Fran von Genlis, von
Berqnin (dem französischen Geßner), Bruchstücke aus Fenelon und Bernardin de
Se. Pierre, das befreite Jerusalem, Racine und einige Tragödien von Voltaire,
namentlich Merope -- alles Schriften, die ganz geeignet waren, einen Knaben
von ohnehin vorwiegend contemplativer Anlage vollständig zu demoraliflren, weil
sie ihn zum weichen, gegenstandloseu Empfiudeln, zur fortwährenden Selbstbe-
schauung und daher zur Unwahrheit verleiteten. Dem kleinen Pythagoreer wurde


wahrt, hin und wieder eine Seite aufgeschlagen und sie mit heiligen Thränen der
Pietät benetzt habe. Im Sommer trieb der Knabe mit den andern Dorfkindern
die Schafe und Ziegen ans die Weide, und briet am Ufer eines Bachs geplün¬
derte Kartoffeln und Maronen. Indem er diese allerliebsten Idyllen erzählt, kann
er nicht unterlassen, in Beziehung auf den Bach folgende charakteristische Bemer-
kung zu machen. „Das Wasser ist das Element der Trauer. 8um«r llumin-r IZ-t-
Kz'louis 8<ztlimu8 et llovimus. Warum? Weil das Wasser mit der ganzen Welt
weint. So klein wir waren, wir wurden von dem Rauschen des Baches gerührt!"
Das ist wohl mehr „Dichtung" als Wahrheit, aber es ist schon ganz der antici-
pirte Lamartine der Revolution, der mitten im Feuer der Barrikaden sich selber
in Thränen spricht, um dem Publikum durch Gefühl zu imponiren, wenn dieses
Gefühl auch uicht im mindesten zur Sache gehört.

„Ich war damals, erzählt Lamartine, eins der schönsten Kinder, das jemals
mit seinen nackten Füßen den Steinboden unserer Berge betreten hat, in einem
Lande, wo doch die Race so gesund und so schön ist. Dunkelblaue Angen, wie
die meiner Mutter, reine und fast römische Formen, gemildert durch einen etwas
nachdenklichen Ausdruck; das Gesicht von einem blendenden Strahl innerer Freu¬
digkeit verklärt; sehr feine und geschmeidige kastanienbraune Haare mit Goldglanz,
die in reichen Locken auf meinen gebräunten Hals herabwogten; hoher Wuchs;
behende, gelenke und graciöse Bewegungen; eine fast zu große Zartheit des Haut¬
gewebes, durch welche die Gewalt der Herzensbewegnngen in Nöthe und Blässe
sich Bahn brach, kurz, das Conterfei meiner Mutter (die er eben als das voll¬
kommenste Ideal menschlicher Schönheit dargestellt hat). Glückliche Formen, ein
glückliches Herz, ein glücklicher Charakter — ich hatte der Natur nichts
vorzuwerfen." Der Junge muß beständig einen Handspiegel in der Tasche mit
sich herumgeführt haben.

Dieser physischen Vollkommenheit entsprach die moralische. „Meine Mutter
verlangte nichts weiter von mir, als gut und wahr zu sein. Das machte mir
keine Mühe. Meine Seele, die nur Güte athmete, konnte nichts anders hervor¬
bringen. Ich hatte nie zu kämpfen, weder mit mir, noch mit sonst wem." Ein
sehr bedenklicher Umstand sür die Entwickelung eines Charakters! — Der erste
Unterricht wurde ihm spielend beigebracht; den Ernst der Schule sollte er sowenig
kennen lernen, als den Ernst des Lebens. Seine Lectüre waren Empfinduugs-
schriften: außer einer „gereinigten" Bibel die Werke der Fran von Genlis, von
Berqnin (dem französischen Geßner), Bruchstücke aus Fenelon und Bernardin de
Se. Pierre, das befreite Jerusalem, Racine und einige Tragödien von Voltaire,
namentlich Merope — alles Schriften, die ganz geeignet waren, einen Knaben
von ohnehin vorwiegend contemplativer Anlage vollständig zu demoraliflren, weil
sie ihn zum weichen, gegenstandloseu Empfiudeln, zur fortwährenden Selbstbe-
schauung und daher zur Unwahrheit verleiteten. Dem kleinen Pythagoreer wurde


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[0452] wahrt, hin und wieder eine Seite aufgeschlagen und sie mit heiligen Thränen der Pietät benetzt habe. Im Sommer trieb der Knabe mit den andern Dorfkindern die Schafe und Ziegen ans die Weide, und briet am Ufer eines Bachs geplün¬ derte Kartoffeln und Maronen. Indem er diese allerliebsten Idyllen erzählt, kann er nicht unterlassen, in Beziehung auf den Bach folgende charakteristische Bemer- kung zu machen. „Das Wasser ist das Element der Trauer. 8um«r llumin-r IZ-t- Kz'louis 8<ztlimu8 et llovimus. Warum? Weil das Wasser mit der ganzen Welt weint. So klein wir waren, wir wurden von dem Rauschen des Baches gerührt!" Das ist wohl mehr „Dichtung" als Wahrheit, aber es ist schon ganz der antici- pirte Lamartine der Revolution, der mitten im Feuer der Barrikaden sich selber in Thränen spricht, um dem Publikum durch Gefühl zu imponiren, wenn dieses Gefühl auch uicht im mindesten zur Sache gehört. „Ich war damals, erzählt Lamartine, eins der schönsten Kinder, das jemals mit seinen nackten Füßen den Steinboden unserer Berge betreten hat, in einem Lande, wo doch die Race so gesund und so schön ist. Dunkelblaue Angen, wie die meiner Mutter, reine und fast römische Formen, gemildert durch einen etwas nachdenklichen Ausdruck; das Gesicht von einem blendenden Strahl innerer Freu¬ digkeit verklärt; sehr feine und geschmeidige kastanienbraune Haare mit Goldglanz, die in reichen Locken auf meinen gebräunten Hals herabwogten; hoher Wuchs; behende, gelenke und graciöse Bewegungen; eine fast zu große Zartheit des Haut¬ gewebes, durch welche die Gewalt der Herzensbewegnngen in Nöthe und Blässe sich Bahn brach, kurz, das Conterfei meiner Mutter (die er eben als das voll¬ kommenste Ideal menschlicher Schönheit dargestellt hat). Glückliche Formen, ein glückliches Herz, ein glücklicher Charakter — ich hatte der Natur nichts vorzuwerfen." Der Junge muß beständig einen Handspiegel in der Tasche mit sich herumgeführt haben. Dieser physischen Vollkommenheit entsprach die moralische. „Meine Mutter verlangte nichts weiter von mir, als gut und wahr zu sein. Das machte mir keine Mühe. Meine Seele, die nur Güte athmete, konnte nichts anders hervor¬ bringen. Ich hatte nie zu kämpfen, weder mit mir, noch mit sonst wem." Ein sehr bedenklicher Umstand sür die Entwickelung eines Charakters! — Der erste Unterricht wurde ihm spielend beigebracht; den Ernst der Schule sollte er sowenig kennen lernen, als den Ernst des Lebens. Seine Lectüre waren Empfinduugs- schriften: außer einer „gereinigten" Bibel die Werke der Fran von Genlis, von Berqnin (dem französischen Geßner), Bruchstücke aus Fenelon und Bernardin de Se. Pierre, das befreite Jerusalem, Racine und einige Tragödien von Voltaire, namentlich Merope — alles Schriften, die ganz geeignet waren, einen Knaben von ohnehin vorwiegend contemplativer Anlage vollständig zu demoraliflren, weil sie ihn zum weichen, gegenstandloseu Empfiudeln, zur fortwährenden Selbstbe- schauung und daher zur Unwahrheit verleiteten. Dem kleinen Pythagoreer wurde

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/452>, abgerufen am 23.06.2024.